"Bodhisattvaweg" und "Imitatio Christi" im Lebensgang Rudolf Steiners. Andreas Neider

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Eigenschaften eines Bodhisattva ablesen lassen, wie er sie selbst in den besagten beiden Texten beschrieben hat. Diese Eigenschaften tragen in Wie erlangt man noch eindeutig die Züge des ihm durch H. P. B. aus dem Buddhismus bekannten «Bodhisattva-Weges», verwandeln sich dann aber in der Schilderung in Die Geheimwissenschaft in die Züge einer «Imitatio Christi».14 Daher auch der Titel dieses Buches: «Bodhisattva-Weg» und «Imitatio Christi» im Lebensgang Rudolf Steiners.

      Dabei gehe ich auch auf die Frage ein, wodurch es zu dieser Weiterentwicklung im Lebensgang Rudolf Steiners gekommen ist. Bei der Untersuchung dieser Frage werden wir uns näher mit der Wesenheit des Novalis, über die Rudolf Steiner insbesondere in der Zeit der Abfassung von Die Geheimwissenschaft sehr häufig gesprochen hat, beschäftigen.15 Das Verhältnis von Novalis zum Christus, wie wir es insbesondere in seinen Hymnen an die Nacht und den Geistlichen Liedern finden, scheint mit der Bodhisattva-Frage und der hier gemeinten «Imitatio Christi» deutlich in Beziehung zu stehen.16

      Damit soll auch das Besondere des «Bodhisattva-Weges» bei Rudolf Steiner herausgestellt werden, nämlich dessen Verbindung mit dem Christus. In welch eigentümlicher Weise sich diese Verbindung mit dem Christus durch das sogenannte «Prinzip der spirituellen Ökonomie», auch im Sinne einer an Novalis angelehnten «Imitatio Christi» entwickelt hat, werden wir in diesem Zusammenhang ebenfalls genauer untersuchen.

      Im Hinblick auf die Bodhisattva-Frage werde ich also zu zeigen versuchen, dass Rudolf Steiner in gewissem Sinne ein Bodhisattva war, und zwar ein im Sinne der Geheimwissenschaft dem Christus dienender und ihm folgender Bodhisattva – ein Bodhisattva, dessen Mission und Aufgabe es war und ist, die Erkenntnis der geistigen Welten, die Geisteswissenschaft, nicht nur hervorzubringen, sondern die Menschen dazu zu befähigen, diese Geisteswissenschaft selbstständig zu pflegen und weiterzuentwickeln, um damit den herrschenden Materialismus zu überwinden.

      Und im selben Zusammenhang steht die mit dieser Mission aufs Engste verbundene Aufgabe Rudolf Steiners, ein wirkliches Verständnis für das Wirken und die Wesenheit des Christus zu erlangen und zu verbreiten. Eben diese Aufgabe aber, so Steiner in jenem erwähnten Vortrag vom 25. Oktober 1909, die Verbreitung eines neuen Christus-Verständnisses, sei die Aufgabe eines mit der Christus-Wesenheit verbundenen Bodhisattva.

      Insofern betrachte ich Rudolf Steiner selbst seit der weiter unten noch genauer zu bestimmenden Zeit als eine Verkörperung dieses hiermit umfassten und von ihm dadurch im christlichen Sinne erneuerten Bodhisattva-Prinzips, das vor allem darin besteht, die eigenen Interessen und Bedürfnisse, den Eigennutz und letztlich den in der menschlichen Natur tief verankerten Egoismus zugunsten der Bedürfnisse, Interessen und Nöte aller anderen Menschen und Wesen auf dieser Erde zurückzustellen.

      Zu dem Wirken im Sinne dieses Bodhisattva-Prinzips gehört vor allem der unmittelbar an die Veröffentlichung des Aufsatzes über den «großen Hüter» in der Aufsatzreihe zu Wie erlangt man in Lucifer-Gnosis seit Oktober 1905 erschienene mehrteilige Aufsatz über «Geisteswissenschaft und soziale Frage». In diesem Aufsatz wird das oben beschriebene Bodhisattva-Prinzip, ohne es explizit so zu benennen, als Grundlage einer modernen menschlichen Gesellschaft und als «soziales Hauptgesetz» erstmals formuliert: Einer Gemeinschaft von zusammenarbeitenden Menschen geht es dann am besten, wenn jeder Einzelne nicht aus Eigennutz und für sich, sondern für alle anderen Menschen tätig sein kann und seine eigenen Bedürfnisse von der Tätigkeit der anderen Menschen befriedigt werden können. Kurzum: Je weniger Egoismus in einer Menschengemeinschaft lebt, desto besser wird es ihr gehen und umgekehrt. Wir werden diesen Zusammenhang im sechsten Kapitel noch genauer untersuchen.

      Neben dieser öffentlichen Wirksamkeit Rudolf Steiners, die nicht nur in dem genannten Aufsatz, sondern in zahlreichen öffentlichen Vorträgen zum Ausdruck kam, wirkte er aber auch innerhalb der Theosophischen Gesellschaft im Sinne des vom ihm erneuerten Bodhisattva-Prinzips. Dies geschah, wenn man die späteren Darstellungen Rudolf Steiners zur Wirksamkeit H. P. Blavatskys mit berücksichtigt, vor allem auch deshalb, um den durch Blavatsky selbst initiierten antichristlichen Tendenzen innerhalb der Theosophischen Gesellschaft entgegenzutreten.17

      Dabei gehe ich davon aus, dass es Rudolf Steiner bei seiner an H. P. B. angelehnten Darstellung implizit darauf ankam, an die von ihm nicht erwähnte, im Bodhisattva-Ideal des Mahayana-Buddhismus enthaltene christliche Tendenz und damit an die innere Verbindung des Mahayana-Buddhismus mit dem Christentum anzuknüpfen und sich dadurch für das oben genannte, in diesem Sinne christliche Bodhisattva-Prinzip einzusetzen.18

      Im letzten Kapitel gehe schließlich auf den Zeitraum von 1897 bis 1903 im Lebensgang Rudolf Steiners im Überblick ein, um den hier untersuchten Umschwung, der mit dem «Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha» und eben mit den in den beiden erwähnten Texten beschriebenen Hüter-Begegnungen zusammenhängt, wie ihn Rudolf Steiner selbst in seiner Autobiografie angedeutet hat, noch genauer zu untersuchen und zu verstehen. Abschließend schildere ich als eine Art Ausblick auf die weiterhin offenen Fragen nach der eigentlichen Wesenheit Rudolf Steiners ein Gespräch, das eine enge Mitarbeiterin Rudolf Steiners, Anna Samweber, die ihm als geistigem Lehrer persönlich sehr nahestand, im Hinblick auf das Wesen seiner Individualität mit ihm geführt hat. Dieses Gespräch sagt sehr viel über das Geheimnis der Individualität Rudolf Steiners aus, auch über die Bedingungen, unter denen dieses Geheimnis in der Zukunft zu lösen sein könnte.19

      Auf dieser hiermit insgesamt neu geschaffenen Grundlage wird es dann vielleicht auch möglich sein, sich die Frage nach der Beziehung Rudolf Steiners zum Maitreya-Bodhisattva und zu den anderen Bodhisattvas noch einmal neu zu stellen. Diese Untersuchung überlasse ich der weiteren Forschung.20

      Zwei Bitten um Nachsicht seien zu Beginn meiner Ausführungen ausgesprochen: Zum einen komme ich in der Darstellung der zum großen Teil intimen Fragestellungen, die mit der Materie diese Buches zusammenhängen, nicht umhin, auch längere Passagen aus den diesbezüglichen schriftlichen und mündlichen Darstellungen Rudolf Steiners zu zitieren. Die Erfahrungen des Verfassers zeigen, dass der Originalwortlaut Rudolf Steiners, insbesondere bei schwerer verständlichen Zusammenhängen, dem Verständnis mehr entgegenkommt, als ein zusammenfassendes Referat. Zum anderen werden mit den in diesem Buch gegebenen Darlegungen der biografischen Entwicklung Rudolf Steiners bislang so noch nicht gesehene Perspektiven eingenommen. Die damit verbundenen Interpretationen mögen dem einen oder anderen Leser möglicherweise als zu gewagt erscheinen. Der Verfasser beansprucht deshalb auch nicht, der «Wahrheit letzten Schluss» über diese Zusammenhänge herausgefunden zu haben. Vielmehr hofft der Verfasser darauf, dass sich diese intimen Zusammenhänge den Leserinnen und Lesern im eigenen Durchdenken und Meditieren weiter aufschließen werden. Dadurch ergeben sich dann womöglich auch noch ganz neue, vom Verfasser nicht gesehene Fragestellungen, die dann auch zu noch weiteren Erkenntnissen führen können.

      Um die Ausführungen der in diesem Buch enthaltenen esoterischen Zusammenhänge nicht zu komplex werden zu lassen und das Lesen somit zu erleichtern, bin ich auf die zum Teil schwierig zu verstehenden Zusammenhänge vor allem im Anmerkungsteil detaillierter eingegangen. Diese Anmerkungen kann man also zur Vertiefung des Verständnisses lesen. Der eigentliche Text sollte aber auch ohne diese Anmerkungen für sich verständlich sein.

      An dieser Stelle möchte ich Johannes Greiner meinen herzlichsten Dank dafür aussprechen, dass er mir durch ein gemeinsames Seminar zum Bodhisattva-Weg im Buddhismus und in der Anthroposophie die Gelegenheit gegeben hat, das dort Vorgetragene schriftlich auszuarbeiten. Außerdem danke ich meinem Freund und Mitbegründer der AKANTHOS-Akademie Christoph Hueck für die kritische Lektüre von Teilen des Manuskriptes und seine wie immer hilfreichen Kommentare. Ebenso sei meinem Freund und Verleger Jean-Claude Lin für die stets offene Bereitschaft, neuen und ungewohnten anthroposophischen Ideen zur Verbreitung zu verhelfen, herzlich gedankt.

       Andreas Neider

      in der Advents- und Weihnachtszeit 2019

      und in der Michaelizeit 2020

      1.

       Vier Arten des Verständnisses eines Bodhisattva

      Um den Begriff


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