In zweiter Ehe. Marie Louise Fischer

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In zweiter Ehe - Marie Louise Fischer


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Entsetzliche kaum hätte ertragen können.

      »Es ist noch Hoffnung«, hatte Professor Rehbein gesagt, und bei jedem Schritt dachte Marius: »Noch Hoffnung… noch Hoffnung… noch Hoffnung!« Aber tatsächlich glaubte er es nicht. Noch Hoffnung – das war zu wenig. Das bedeutete: »Machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt.« Das Schlimmste – Birgits Tod. Nein, das durfte nicht sein, das konnte nicht geschehen, so grausam durfte das Schicksal nicht zuschlagen.

      Marius Ellmann ballte die Fäuste in den Taschen, in seiner Kehle saß ein Schrei, den er nicht laut werden lassen durfte und an dem er fast erstickte. Er war außer sich vor Schmerz und nahm kaum wahr, was um ihn herum vorging.

      Rechtsanwalt Kreuger und seiner Frau war es gleichgültig, daß Marius Ellmann ihnen folgte. Sie hatten weder die Kraft noch den Wunsch, ihn abzuschütteln. So gingen sie nebeneinander her, stumm und taub, mit nach innen gekehrtem Blick, drei Menschen, die dasselbe Schicksal getroffen und vereint hatte und die doch allein waren mit sich selbst. Sie schritten gleichmäßig aus wie Puppen, die von einer fremden Hand aufgezogen worden waren, beachteten nicht, daß eilige Schritte sie überholten, nahmen nicht zur Kenntnis, wenn sie gestoßen und angerempelt wurden. Sie gingen wie Verurteilte.

      Rechtsanwalt Kreuger dachte: ›Es ist meine Schuld, ja es ist meine Schuld! Ist es wirklich meine Schuld? Herrgott noch mal, was hätte ich denn tun sollen? Ich habe doch nur das Beste gewollt. Birgit! Birgit! Wie konntest du mir das antun? Mein Gewissen findet keine Ruhe. Ich habe dich verloren. Es ist meine Schuld! Nur meine Schuld! Nein, nein! Es darf nicht sein! Ich kann es nicht ertragen. Es ist mehr, als ich ertragen kann. Birgit, mein Kind!‹

      Nebeneinander schritten sie über die Lombardsbrücke, erreichten die stilleren Bezirke der Außenalster, überquerten eine schmale Seitenstraße. Keiner von ihnen bemerkte den Radfahrer, der von rechts einbog. Es war ein älterer Mann mit einer abgewetzten Aktentasche auf dem Gepäckträger. Der Radfahrer konnte ihnen nur mit Mühe ausweichen, er trat auf die Bremse, stieg ab und schimpfte aufgebracht: »Können Sie denn nicht aufpassen? Bleiben Sie gefälligst zu Hause, wenn…«

      Die drei starrten ihn verständnislos an, bemühten sich, zu begreifen, was er von ihnen wollte.

      Der Radfahrer stockte mitten im Satz, irritiert und seltsam berührt. »Na, es ist ja noch mal gutgegangen…«

      Frau Kreuger hatte nur den letzten Satz aufgenommen. ›Es ist noch einmal gutgegangen‹, dachte sie, ›es wird gutgehen. Ganz bestimmt wird es gutgehen. Es ist noch Hoffnung, hatte Professor Rehbein gesagt. Solang noch Hoffnung ist… Birgit wird leben. Ich bin ganz sicher, daß sie leben wird. Es kann nicht sein, daß sie… nein, es kann nicht sein.‹

      Sie sah Birgit vor sich, jung und lebendig, glaubte, ihre warme, fröhliche Stimme zu hören, ihr Lachen, das so oft das ganze Haus erfüllt hatte.

      Merkwürdigerweise war es nicht die erwachsene Birgit, die in ihrem Herzen lebendig war, nicht die Birgit, die noch am Abend vorher verzweifelt um ihre Liebe gekämpft hatte. Für Frau Kreuger war die wahre Birgit immer noch das kleine Mädchen, dessen dünne, lange Beine aus dem Matrosenkleidchen hervorstaken, dem zwei dicke blonde Zöpfe schwer über die Schultern fielen. Sie hatte sich durch all die Jahre Birgits Bild aus jener Zeit bewahrt, wo Mutter und Tochter noch eng miteinander verbunden gewesen waren. Damals, als Birgit so gern im Haus geholfen hatte, als Frau Kreuger ihr gezeigt hatte, wie man einen Pullover strickt – damals, als sie noch ganz Kind gewesen war, ihre kleine Tochter, mit dem blassen, lieben Gesicht und den großen, klaren Augen.

      Dann hatten die Bücher begonnen, in Birgits Leben eine Rolle zu spielen, Berge von Büchern, die sie verschlungen hatte. Frau Kreuger sah Birgit vor sich, wie sie auf dem Bauch vor dem Kamin lag, den Kopf in die Hände gestützt. Sie las und las, während alle anderen sich fröhlich über irgend etwas stritten. Als der Vater sie endlich fragte: »Na, Birgit, was hältst du denn davon?« – hatte sie mit einem Ruck die blonden Zöpfe über die Schulter zurückgeworfen und mit einem halb verlegenen, halb stolzen Lächeln gesagt: »Entschuldige bitte, Paps, ich habe nicht zugehört!«

      Damals hatte Frau Kreuger zum erstenmal begriffen, daß Birgit sich unaufhaltsam von ihr entfernte, daß sie sie verlieren würde – verlieren, ja, an ihre Bücher, an ihren Ehrgeiz, an einen Mann –, aber nicht an den Tod. Dies war unmöglich, ganz und gar unmöglich.

      Frau Sabine glaubte fest, daß in jedem Tod ein Sinn liegen mußte. ›Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß‹ stand so oft in den Todesanzeigen, und jedesmal, wenn sie das las, hatte sie gedacht: ›Auch dieser Tod muß einen Sinn gehabt haben.‹

      Frau Kreuger wußte, daß das Schicksal grausam sein konnte, daß Kinder und junge Leute starben, und dennoch klammerte sie sich an ihre Hoffnung: Gottes Güte.

      ›Gott kann das nicht zulassen‹, dachte sie, ›Gott wird es nicht zulassen. Birgit wird leben, sie ist ja meine kleine Tochter.‹ Ihre Gedanken verwirrten sich, sie begriff nicht mehr, daß es die erwachsene Birgit war, die zwischen Leben und Tod schwebte. Ein Mädchen von 22 Jahren, eine junge Frau, die sich ihr Leben selber aufbauen wollte, die vielleicht andere Anschauungen hatte als ihre Eltern – und die ein Recht darauf hatte, ihr Herz sprechen zu lassen. Für Frau Kreuger war sie immer noch die kleine Birgit mit dem Matrosenkleidchen und den blonden Zöpfen, um deren Leben sie bangte und um deren Leben sie betete.

      Sie schritten durch die Grünanlagen an der Alster entlang. Das Wasser war hell und grau und eisig wie der Himmel. Möwen flogen hoch, kreischten und stießen nieder. Hausangestellte führten Hunde aus, Kinder spielten Nachlaufen.

      Friedrich Kreuger und seine Frau gingen hastig, ihre Schritte verloren das Gleichmaß. ›Wenn jetzt aus der Klinik angerufen wird?!‹ dachte jeder still für sich, und auch Marius Ellmann hatte keinen anderen Gedanken. Die Angst um Birgit ließ diese drei Menschen beisammen bleiben, wenngleich keiner ein Wort sprach. Marius empfand, daß er nicht willkommen war, aber er konnte nichts tun, als Birgits Eltern folgen. Anders wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen, ein Verräter an Birgit und an seiner Liebe.

      Sie liefen jetzt mehr, als sie gingen, durch die Straßen, achteten nicht darauf, daß die Leute ihnen verblüfft und verständnislos nachsahen. Alle drei fürchteten, hofften, glaubten, daß eine Nachricht aus der Klinik vorliegen würde.

      Keuchend erreichten sie den Vorgarten des schönen, gepflegten Backsteinhauses auf dem Harvestehuder Weg. Rechtsanwalt Kreuger brachte nicht die Kraft auf, nach seinem Schlüssel zu suchen, er drückte auf den Klingelknopf.

      Ellen, ein hellblondes, kräftiges Mädchen aus den Marschen, das seit Jahren im Hause Kreuger arbeitete, öffnete die Haustür.

      »Ist angerufen worden?« fragte der Rechtsanwalt, ohne zu grüßen.

      »Ja«, sagte Ellen sofort, »aus der Kanzlei. Ich habe gesagt, daß Herr Doktor…«

      »Sonst niemand?«

      »Nein.« Ellens breitflächiges, unschönes Gesicht war bekümmert. Sie wußte nicht, was geschehen war, aber sie hatte begriffen, daß es etwas Furchtbares sein mußte. Sie hätte gerne gefragt, geholfen, wenigstens getröstet, aber sie spürte, daß jedes Wort von ihr nur alles noch schlimmer gemacht hätte.

      »Soll ich einen Kaffee kochen?« fragte sie.

      »Nicht nötig«, wehrte Rechtsanwalt Kreuger ab.

      Zum ersten Mal wandte Frau Kreuger sich an Marius: »Oder möchten sie vielleicht… ?«

      Marius Ellmann schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

      Ellen half Frau Kreuger aus dem Mantel, die Männer hängten ihre Mäntel an der Garderobe auf, dann stiegen sie wortlos die Treppe hinauf.

      Ellen lief ihnen nach, überholte sie, öffnete oben die Tür zum Wohnzimmer und sagte entschuldigend: »Wenn ich gewußt hätte… ich habe noch nicht…« Sie merkte, daß niemand ihr zuhörte, und verstummte.

      Es war noch nicht aufgeräumt. Alles war noch genauso wie am Abend vorher. Im offenen Kamin lag die graue Asche und erfüllte das Zimmer mit einem scharfen, durchdringenden Geruch.

      Niemand


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