Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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ich einen mächtigen Stoß schönen glatten Papiers gekauft. Schon hatte ich mich hingesetzt und auf das oberste Blatt des mächtigen Stoßes, der für zwei Bände hinreichen mochte, mit runder sorgfältiger Schrift die Worte gemalt: „Erstes Kapitel“, welches die Geschichte einleiten sollte, die den Entehrten, Gefolterten und Massakrierten einmal geweiht sein wird, wenn es Gott will. Leider aber war die Feder nichts wert. Es ist jetzt so schwer, die richtigen Federn zu bekommen. Selbst die besten Füllfedern sind steif und hart und widerspenstig und zu spitz und wollen nicht recht in Schwung kommen. Das lesende Publikum weiß glücklicherweise nur wenig von der Werkstatt des Schriftstellers. Ein wahrer Schriftsteller, das sollte ein Mann sein, der mit der empfindlichsten, nervigsten Hand schreibt und nicht auf tote Tasten klopft. Ein solcher Mann gerade aber bedarf gewisser begeisternder Schreibutensilien. Eine gute Feder vor allem, weich und geschmeidig, der zartesten, zweifelndsten Haar- und der entschlossensten Schattenstriche fähig, sie wirft das Satzbild aufs Papier wie eine Meisterzeichnung. Eine gute Feder — und dies soll kein Scherz sein — ist schon der halbe Gedanke. Ich ging also aus, um eine gute Feder zu suchen. Ich fand nur eine leidliche. Die Jagd aber nahm mehrere Tage in Anspruch. In der Nacht des letzten dieser Tage aber unterlief mir das, was ich hier die „Aussendung auf eine Forschungsreise“ nennen will. Das Material, das ich von dieser Reise in meinem Geiste heimbrachte, war groß, größer als selbst eine umfangreichere Schrift, als diese es zu werden droht, verraten könnte.

      Ich hatte nun meine Wahl zu treffen. Vor mir lag das weiße Blatt, auf dem in großen Lettern gemalt stand: „Erstes Kapitel“, und sonst nichts. Diese befehlshaberischen zwei Worte schienen mit Recht zu fordern, daß ihnen die Geschichte unsrer ungeheuerlichen Wirklichkeit nachrücke in Reih und Glied. Ich aber schauderte zurück: Wird diese ungeheuerliche Wirklichkeit nicht wirklicher werden von Tag zu Tag und am wirklichsten und wahrsten vielleicht dann, wenn sie nicht mehr ist? Die Wirklichkeit meiner Reiseerlebnisse hingegen ist aus einem andern Zeug gesponnen. Sie pflegt meist zu zergehen beim ersten Hahnenschrei oder Hupenruf, und auch das beste Gedächtnis bietet keine Gewähr dafür, daß sie ihm nicht entschlüpfe, plötzlich und auf Nimmerwiedersehn. Eile tut daher not.

      Und so beschloß ich denn, unter jenes „Erste Kapitel“, das noch immer auf die Geschichte unsrer ungeheuerlichen Wirklichkeit wartet, das obige hier einzuschwärzen. Es ist ein abergläubischer Trick. Ich habe mir nichts weggeschrieben. Ich habe meine Aufgabe nicht preisgegeben. Jenes „Erste Kapitel“, das eine Last ohnegleichen tragen soll, steht leer . . . Denn dieses hier, wiederhole ich zum Schluß unter allgemeiner Zustimmung, ist keines. Sondern das Zweite Kapitel übernimmt das Erste Kapitel.

      ZWEITES KAPITEL

      Worin ich meinem Freund B.H. begegne, der mich darauf aufmerksam macht, daß ich unsichtbar bin.

      „WIE, BIST DU NICHT TOT, B.H.?“ fragte ich meinen ältesten und besten Freund und streichelte seine Hand, glücklich, ihn wiederzusehen. Es fiel mir ein Stein vom Herzen bei dieser Begegnung nach so vielen Jahren. Ich hatte B.H. gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er war von der großen Flucht vor den Nazis nach Indien verschlagen worden, weit in den Norden, an die tibetanische Grenze, irgendwohin in die Nähe von Darjeeling, wo der Krieg jeder Verbindung zwischen uns ein Ende setzte. Wer weiß, vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, ihm noch einmal einen Brief zu schreiben oder mich an das Rote Kreuz zu wenden, um ihm zu helfen. Obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, war es für mich ausgemacht, daß er zugrunde gegangen sein mußte . . . B.H. lächelte, wobei sein großer Kopf mit den schwarzen Haaren und dunklen schönen Augen ein wenig zitterte, ja beinahe wackelte, wie es schon in unsrer gemeinsamen Schulzeit seine Art war, wenn es ihm gelang, eine überlegene Bemerkung zu machen.

      „Ich bin nicht tot“, zwinkerte B.H. „Ich lebe, wie du siehst, aus vollen Lungen. Hingegen bist du tot, F.W., und länger, viel länger, als du dich überhaupt erinnern kannst . . .“

      „Wieso bin ich tot, B.H.?“ fragte ich, von seiner Offenheit verletzt, die mir taktlos erschien, obwohl ich mir doch vorhin denselben Verstoß hatte zuschulden kommen lassen.

      B.H. sah mich lange und ernst an, ehe er sich zur Frage entschloß:

      „Kannst du mich sehen, F.W.?“

      „Natürlich kann ich dich sehen. Wie machst du es, daß du mit Fünfzig noch immer wie mit Fünfundzwanzig ausschaust . . .? Nein, auch das ist noch übertrieben. Du siehst genau so aus wie am Tag unserer Abiturientenprüfung . . .“

      „Ich bin nach der augenblicklich gültigen Lebenszeitrechnung Hundertundsieben“, nickte er sachlich, „aber wie steht es mit dir, F.W.? Kannst du zum Beispiel dich selbst sehen?“

      Ich sah an mir herab. Ich konnte mich nicht sehen. Ein kurzer galvanischer Schreck durchzuckte mich. Ich war unsichtbar. Unsichtbar für andere, das ist wohl beklemmend genug. Aber unsichtbar für mich selbst? Ich versuchte, meine aufgescheuchten Gedanken und Empfindungen zusammenzuraffen. Zuerst erkannte ich mit Verwunderung, daß ich mich wohlfühlte, sogar ausnehmend wohl, viel wohler jedenfalls als vorhin (wann vorhin?), ehe ich — vermutlich aus einem von diesem Orte schon sehr entfernten Tor tretend — auf eine unbekannte Straße geraten war, um plötzlich meinem alten Freunde B.H. zu begegnen. Ich bin nicht sicher übrigens, ob ich von einer Straße zu reden das Recht habe. Es war gebahnter Boden, zweifellos, der sich gleichmäßig nach allen Seiten hin zum Horizont erstreckte, ohne rechts und links von Böschungen oder Straßengräben begrenzt zu sein. Unter meinen Füßen wuchs ein kurzer trockener Rasen, der den Schritt erstaunlich förderte und das Gehen zu einem neuartigen Vergnügen machte. Dieser Rasen bestand aus wohlgepflegtem Gras. Das Gras aber hatte die leiseste grünliche Tönung, die letzte Spur von Chlorophyll verloren. Es wuchs zum Teil weiß, zum Teil eisengrau auf dem glatten Erdboden, wie das Haar auf dem Schädel eines zwar noch tüchtigen, aber schon ergreisenden Mannes. Ich verwende die Phrase „unter meinen Füßen“ nicht aus einem stilistischen Versehen, wie mancher Leser wohl schon angenommen hat. Obwohl ich unsichtbar war für andere und sogar für mich selbst, so besaß ich doch Hände und Füße und den ganzen Leib, an den ich so sehr gewöhnt war. Gewiß, ich war unsichtbar, aber durchaus nicht körperlos. Zwar, wenn ich mit meinen braven alten Händen mich abtastete, griff ich ins Nichts. In diesem Nichts aber fühlte ich mein Herz schlagen, regelmäßiger und ruhiger als sonst, meine Lungen dehnten sich aus und zogen sich zusammen, ich schaute, hörte, roch und schmeckte. Mein jugendfrisches Wohlbefinden schien damit zusammenzuhängen, daß all diese Funktionen der Sinne sich nicht, wie sonst, durch eine schwere und stellenweise schon verbrauchte Materie durcharbeiten mußten. Um einen banalen und nur halb zutreffenden Vergleich zu verwenden, ich fühlte mich leicht und beweglich, wie etwa ein dicker Mann sich nach einer streng durchgeführten Entfettungskur zu fühlen wünscht. Hatte B.H. recht, war’s wirklich die strenge, die trefflich geglückte Entfettungskur des Todes, die ich so prächtig überstanden hatte? Ich bezweifelte diese Möglichkeit keineswegs. Dennoch aber schämte ich mich in diesem Augenblick, ich weiß nicht warum. Ich schämte mich nicht nur um meiner selbst willen, sondern auch um B.H.s willen. Es war eine Scham, ähnlich derjenigen, nackt zu sein, und zwar über alle Vorstellungen und Begriffe nackt. Um mir selbst, und vielleicht auch B.H. aus der Verlegenheit herauszuhelfen, brummte ich:

      „Was man manchmal für Unsinn zusammenträumt . . .“

      B.H. schüttelte ziemlich ironisch den Kopf:

      „Man hat recht kindische Theorien damals verzapft über solche Dinge“, meinte er.

      „Sprichst du etwa von Freuds Traumdeutung, B.H.?“

      Er sah mich angestrengt an, als verstünde er mich nicht:

      „Wer? Freud? Leid? Wie soll ich mich an alle diese Namen erinnern aus den Anfängen der Menschheit?“ sagte er etwas geringschätzig.

      „Anfänge der Menschheit?“ fragte ich und fühlte genau, wie eine gekränkte Leidenschaftlichkeit meine Stimme färbte, die tönend aus meinem unsichtbaren Munde und nicht minder unsichtbaren Innern drang. „Anfänge der Menschheit? Waren es etwa die Anfänge der Menschheit, lieber B.H., als wir gemeinsam Shakespeare und Goethe lasen und über Dostojewski und Nietzsche, über Pascal und Kierkegaard diskutierten auf den Parkwegen des Belvederes? Erinnerst du dich nicht, es ist ja so kurz her, es war gestern, oder vielleicht heute


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