Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen
Читать онлайн книгу.Sie läßt sich von der Mauer hinuntergleiten, steht auf Strümpfen vor Nanna, von einem Loch auf dem Knie läuft eine Laufmasche bis zum Kleidersaum hoch. Dann schlingt sie ihre Arme um Nanna, drückt sie fest an sich.
»Werde glücklich«, sagt sie. »Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«
Oktober – Dezember 1961
Guiffelec, den 10. Oktober 1961
Lieber Vater!
Gestern haben Yann und ich geheiratet. Ich habe mich selbst gefragt, ob ich mir gewünscht hätte, daß Du hier gewesen wärst, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es wohl so am besten ist, wie es ist.
Yann ist der beste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Dir würde er bestimmt nicht gefallen, er ist für Deinen Geschmack viel zu weich. Aber jetzt ist er mein Mann, und im Frühling kommt unser Kind. Das wird ein anderes Leben, als Du und ich es uns vorgestellt haben.
Es tut mir leid, daß ich abgereist bin, ohne mich zu verabschieden und ohne zu versuchen, etwas zu erklären. Aber ich wollte Dir nicht gegenübersitzen und mich von Deinen »klugen« Worten niedermachen lassen. Ich hatte Angst, daß ich mich überreden oder einschüchtern lassen würde, Yann fallenzulassen, schließlich bin ich es gewohnt, das zu tun, was ich Deiner Meinung nach wirklich will.
Ich habe immer geglaubt, Du und ich, wir würden uns lieben, so wie Vater und Tochter. Erst jetzt begreife ich, daß wir einander Steine statt Brot gegeben haben. Liebe ist etwas ganz anderes.
Ich mag Dich, Vater. Es fällt mir schwer, Dich schwach und krank zu sehen, und ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich Dir weh tue. Ich bitte Dich nicht um Dein Verständnis, denn ich glaube nicht, daß Du mich verstehen kannst, selbst wenn Du es willst. Ich möchte nur, daß Du akzeptierst, daß die Dinge sind, wie sie nun einmal sind.
Ich bleibe bei Yanns Mutter, solange Yann eingezogen ist, er wird in ein paar Tagen nach Algerien geschickt, ich sehe ihn erst wieder, wenn das Kind geboren ist.
Grüß Bodil von mir. Vielleicht möchtet ihr uns ja einmal besuchen. Ich hoffe es jedenfalls.
Herzliche Grüße
Nanna
Frederiksberg, den 20. Oktober 1961
Nanna,
ich muß Dir mitteilen, daß Dein Vater in der Nacht zum 9. Oktober gestorben ist. Er starb in meinen Armen, und ich werde immer dankbar sein, daß ich bis zuletzt bei ihm sein durfte. Deine Abreise und die Art, wie sie vonstatten ging, haben dazu beigetragen, seine letzten Wochen zu verpesten, und sicher sein Leben verkürzt. Aber das wird Dir vermutlich gleichgültig sein.
Alle Freunde Deines Vaters sind zur Beerdigung gekommen, er war ein sehr angesehener Mann, das will ich Dir sagen, seine Jagdkameraden haben eine Ehrenwacht an seinem Sarg gehalten. Natürlich haben sie auch nach Dir gefragt, das war äußerst peinlich.
Ich schicke Deinen Brief an ihn zurück, natürlich ungeöffnet. So werde ich nie erfahren, welche guten Entschuldigungen Du Dir ausgedacht hast. Zum Glück traf er erst nach seinem Tode ein, Du hast ihm auch so oft genug weh getan.
Das Nachlaßgericht hat die Adresse bekommen, die auf dem Brief steht, Du wirst also Nachricht bekommen, falls die Adresse weiterhin gilt, sonst werden sie wohl Nachforschungen anstellen, darum kann ich mich nicht kümmern.
Ich habe das Haus zum Verkauf ausgeschrieben und wohne bis auf weiteres bei meiner Schwester und meinem Schwager. Aber bitte melde Dich nur, wenn es unbedingt notwendig ist.
Bodil Kern-Nielsen
Guiffelec, den 25. Oktober 1961
Mein Geliebter,
mein Vater ist tot. Eine Tür ist zugefallen, eine Tür, die ich nie wieder werde öffnen können. Ich habe geweint, als ich den Brief von meiner Stiefmutter bekommen habe, aber ich weiß nicht, ob ich trauere. Heute morgen bin ich aufgewacht und habe gedacht: Etwas muß sterben, damit etwas anderes leben kann. Kannst Du das verstehen? Ich sehne mich ganz fürchterlich nach Dir, danach, in Deinen Armen zu liegen, mit Dir zu reden, zu schweigen und wieder zu reden, bis ich mehr davon verstehe, was da mit mir geschieht.
Jetzt gibt es nur noch Dich und mich. Dich und mich und den kleinen Samen in meinem Bauch, der gar nicht mehr so klein ist. Deine Mutter ist gestern mit mir zu Mme Roux gegangen, sie hat dort hübschen Stoff für ein Kleid gekauft, das meinen Bauch verdecken soll. Ihr geht es am besten, wenn sie etwas für mich machen darf, mein Aussehen und meine Gesundheit verwalten kann. Ich lasse ihr ihren Willen, das ist am besten so. Der Arzt sagt, daß alles gut aussieht, ich komme jetzt in den fünften Monat!
Martines Eltern haben anläßlich ihres Hochzeitstags letzten Sonntag hier gegessen. Martine und ihr Mann waren auch dabei, ihr kleiner Junge ist ein niedliches Kind, blond und blauäugig. Martine stillt ihn, ich habe ihr erlaubt, dafür in unser Zimmer zu gehen. Sie hat nach Dir gefragt und uns viel Glück gewünscht. Alles äußerst freundlich. Ich glaube nicht, daß wir von der Seite etwas zu befürchten haben.
Ich gehe fast jeden Tag hinüber zu Mémé, sitze bei ihr in der Küche und sehe zu, wie sie Fisch für die Katze kocht, Kaffee aufbrüht und plaudert. Sie hat mir versprochen, mir beizubringen, wie man galettes und anderes zubereitet, was Du gern ißt. Ich habe ihr von Vater erzählt, aber ich habe es nicht über mich gebracht, es Deiner Mutter zu erzählen, warum, weiß ich auch nicht. Mémé sagte: »Wenn ein Grab aufgeworfen wird, schaukelt die Wiege«, und hat mir die Wange gestreichelt.
Je t’embrasse bien fort Nanna
Hussein-Dey, den 28. November 1961
Nanna, meine Geliebte,
Du darfst mir nicht böse sein. Einen Monat ohne Brief von Dir würde ich nicht überleben. Und jetzt bitte ich Dich, mir zu verzeihen, daß Du einen ganzen Monat warten mußtest, ehe Du von mir hörst. Aber ich habe einfach nicht über das schreiben können, was ich hier erlebe, das ist unmöglich.
Ich kann nicht erzählen, was hier passiert. Im Namen Frankreichs, im Namen des französischen Staates. Wobei ich mitmache. Was ich sehe. Mein Gott, die Franzosen haben unter deutscher Herrschaft leben müssen, mein Vater ist zusammen mit seinen Kameraden erschossen worden, vorher sind sie gefoltert worden, gequält, weil die Deutschen Informationen haben wollten, wie kann ich sagen, daß mir Frankreich egal ist.
Ich habe bereits zuviel geschrieben, vergib mir, Nanna, unser Kind darf nie erfahren, daß sein Vater an einem Krieg teilgenommen hat, der so unsagbar beschissen ist. Du sollst diesen Brief gar nicht lesen, schmeiß ihn lieber weg, aber ich muß einfach schreiben, wie es ist. Oder versuchen zu schreiben. Versuchen zu verstehen. Nanna, begreif doch, daß das, was hier geschieht, nicht mit meiner Zustimmung geschieht, daß ich Angst habe, die ganze Zeit habe ich Angst, ich bin so verschreckt, daß ich nichts tun kann, selbst wenn ich es wollte. Ich bin nur ein einfacher Soldat, ich muß mitmachen, andere geben die Befehle, und mir ist es nicht erlaubt, Fragen zu stellen.
Ich muß Decken ins Lager bringen, Decken für die Gefangenen, ich sehe sie ankommen, stolz, voller Trotz, sie glauben an ihre Sache, so wie Vater und seine Freunde an die ihre geglaubt haben. Ich bringe die Decken, und wenn ich wiederkomme, erkenne ich ihre mißhandelten Körper, ihre zerschlagenen Gesichter kaum wieder.
Nanna, es sind auch Frauen darunter. Gestern sah ich eine junge Frau, ein schmächtiges Mädchen, in Deinem Alter, in Deinem Alter, Nanna, meine blonde Königin, Yseut, der nichts Böses zustoßen möge, paß auf unser Kind auf, paß auf Dich selbst auf, ich liebe Dich, jede Nacht denke ich an Dich, jeden Tag, jede Minute, ich wußte nicht, daß Sehnsucht zu einem Schmerz werden kann. Es war Blut unter ihr, eine große Pfütze, ihre Bluse hing nur noch in Fetzen, auf ihrer Brust waren die Spuren von glühenden Zigaretten, ich habe sie mit einer Decke zugedeckt, ich habe ihr einen Becher Wasser gereicht, aber ich konnte nicht das, was sie mit ihr gemacht haben, ungeschehen machen.
Ich bete die ganze Zeit im stillen, bete um Vergebung, nicht zu Gott, ich weiß nicht, wer Gott ist, ich bete zu den Menschen um Vergebung, zu den Menschen hier, den Menschen