Die zwölfte Stunde und andere Novellen. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Aber von Schnurgeradegehen war keine Rede mehr. Ich vermochte den Boden kaum mehr zu erkennen, ich stolperte, glitt über Schneehügel, patschte in allerhand Rinnsale und Tümpel und keuchte weiter, weiter in der niedersinkenden grimmigen Nacht.
Wie lange, das mag der Himmel wissen. Wie im Traum lief ich vorwärts, schon, um nicht durch Stehenbleiben zu erstarren, mit offenem Mund und halbgeschlossenen Augen und einem lähmenden, dumpfen Entsetzen in der Brust. Da plötzlich prallte ich, schon in tiefster Dämmerung, zurück: Mir war, als hätte ich aus weiter Ferne das Lachen einer hellen Stimme gehört ...
„Hallo!“ schrie ich, so laut ich konnte.
„Hallo!“ klang es silbern aus dem Nebel zurück.
War das das Echo meines rauhen Basses? Unmöglich! Oder eine Täuschung meiner Sinne? Das schon eher — ich fühlte ja, wie mir das Blut in den Ohren rauschte und hämmerte. Aber einerlei — jetzt gab es nur einen Weg. Und der führte in die Richtung, von wo die Stimme klang!
Nach hundert Schritten blieb ich stehen und rief aufs neue: „Hallo!“
Und viel näher und lauter lachte es dagegen: „Hallo!“
Nun war kein Halten mehr. Ich rannte mit einer kaum glaublichen Eile, alle Kräfte aufbietend, durch den Schnee dahin, und plötzlich war mir’s, als müsse ich in die Knie sinken und meinem Schöpfer danken. Dicht vor mir zitterte ein schmaler, senkrechter Lichtstreifen durch das nun stockfinstere Dunkel, ein Lichtstreifen, der aus dem Spalt eines Ladenfensters fiel! Da war die Hütte und in ihr Menschen!
„Hurra!“ schrie ich aus tiefster Brust, und von dem dunklen Eingang her lachte es wieder silberhell: „Hörrä!“ — mit unverkennbar englischem Akzent.
Die Türe öffnete sich. Ich trat ein, in Leben und Licht und Wärme.
Es war also wirklich eine Expedition gleichzeitig mit mir aufgebrochen und lagerte vier Köpfe stark in der Hütte, um am andern Morgen den Eiskofel zu erklimmen und dann auf der anderen Seite in das Val Turnez abzusteigen.
Ihr Haupt war ein englischer Reverend, einer jener greisen Jünglinge mit roten Backen, langem Silberhaar und knabenhafter Rüstigkeit, wie man sie bei dieser Nation so häufig findet.
Neben ihm sass seine Tochter, deren Stimme mich hierher gelockt. Durchaus keine Märchenprinzess von geheimnisvoller Schönheit, sondern ein munteres, kerngesundes Mädchen von etwa zwanzig Jahren, blond und sommersprossig, mit blitzenden Zähnen und glänzenden Augen.
Sie hielt ihre Hand in der ihres Begleiters, eines mittelgrossen, breitschultrigen, jungen Mannes, der mit seinem kurzen Schnurrbart, dem leeren Lächeln und seinen lässigen Bewegungen das Urbild eines britischen Touristen war.
Er rauchte eine kurze Stummelpfeife, und dasselbe tat auch der Führer, der abseits in der Ecke kauerte, ein hübscher, schwarzhaariger Mensch, aber mit düsterer, verbissener Miene.
Auf dem Tisch dampfte der Silvesterpunsch und standen die Überreste einer behaglichen Mahlzeit. Die Tabakswölkchen kräuselten sich durch die angenehm warme Luft, und in der Ecke winkte lockend das weiche Matratzenlager.
Das war es, was mir vor allem not tat. Ich war vollkommen erschöpft. Die Engländer redeten mir zu, mich zu ihnen an den Tisch zu setzen und an ihrer Silvesterfeier teilzunehmen, aber ich war zu hart mitgenommen von der geistigen und körperlichen Anspannung der letzten Stunden. Mit der Bitte um Entschuldigung wankte ich zu dem Lager, warf mich darauf und blieb regungslos und schweratmend liegen.
Bald verfiel ich in eine Art Halbschlaf — keinen wirklichen Schlummer; denn dazu war ich zu ermattet und fühlte, wie mich langsame Fieberschauer überfröstelten — sondern in ein waches Träumen, in dem man undeutlich hört und sieht, was um einen vorgeht.
Anfangs hatte sich die britische Gesellschaft still verhalten. Nun, da sie mich schlafend glaubten, wurden sie wieder munter, sie lachten und scherzten, sie stiessen mit den Gläsern an und erzählten sich mit halblauter Stimme allerhand lustige Geschichten.
Nur der Führer sass stumm und finster in seiner Ecke und regte sich selbst dann nicht, als der junge Mann mit der Behauptung, sie ständen unter einem Mistelzweig, der blonden Miss einen Kuss raubte. Die schrie zornwütig auf und zeigte die weissen Zähne, der alte Herr lachte, dass ihm die Tränen in die Augen traten, und der Missetäter selbst ergriff einen Zinndeckel, um triumphierend und sich mit den Fingerknöcheln den Takt schlagend, mit aller Verve einen Niggertanz auszuführen. Seine Stiefelabsätze donnerten auf dem Hüttenboden, dass alles krachte, aber dann ... allmählich ... schienen sie mir leiser und leiser aufzutreten, als glitten sie über Filz, und ich versank in tiefen, traumlosen Schlaf ...
Nach einigen Stunden rüttelte mich etwas wach. Das Zimmer war kalt geworden, die Kerze flackerte unstet im Erlöschen, und die Engländer standen schweigend und ernst um mich herum mit jenen bleichen, finsteren Mienen, wie sie vor Morgengrauen und vor einer schweren Tour auch die beherztesten Bergsteiger zu haben pflegen.
„Kommen Sie, Herr!“ sagte der Reverend. „Es ist Zeit. Wir brechen jetzt auf!“
Ich fühlte mich schwerkrank, an allen Gliedern zerschlagen und vom Fieber geschüttelt. Ein leises Grauen regte sich in mir bei dem Gedanken, jetzt mit der Gesellschaft in die kalte, dunkle, unbekannte Nacht hinauszuwandern.
Ich blieb liegen und schüttelte den Kopf. „Sie müssen allein gehen! ... Ich fühle mich nicht wohl!“
Meine Worte erregten einen lebhaften, mir ganz unerklärlichen Unwillen. Der alte Herr beugte sich über mich, und in seinem faltigen Gesicht hob sich die rechte Seite der Oberlippe, dass der weisse Eckzahn bösartig blinkend sichtbar wurde. „Sie sollen aber mit!“ zischte er leise und heftig ... „... Sie sollen mit uns gehen!“
Und seine hübsche Tochter stand daneben und legte mit geheimnisvollem Lächeln die beiden Hände wie ein flehendes Kind aneinander. „Bitte ... bitte!“ flüsterte sie ... „... Schliessen Sie sich uns an ...“
Ich schwankte ... ich war schon im Begriff, mich zu erheben, da packte mich der junge Gentleman mit eiserner Faust an der Schulter und versuchte mich in die Höhe zu ziehen. „Stehen Sie auf!“ gebot er rauh, und seine Augen funkelten ... „... Sie müssen mit uns kommen!“
Ich stiess ihn zurück. Mein Zorn erwachte und zugleich eine unerklärliche Beklemmung. „Ich bitte, mich in Ruhe zu lassen,“ sagte ich ... „... und wünsche Ihnen viel Glück auf den Weg!“
Da sahen sie sich an, zuckten schweigend die Achseln und traten zu dem Tisch, wo ihre Sachen schon fertig gerüstet dalagen. Nur ab und zu fuhr, während sie sie anlegten, ein spöttischer Blick zu mir herüber.
Bald waren sie fertig. An der Türe schauten sie mich noch einmal fragend an, und als ich den Kopf schüttelte, traten sie finster und ohne Gruss ins Freie. Nur der Führer blieb vor mir stehen. Zum erstenmal glitt, während er die Pfeife aus dem Munde nahm, ein Lächeln über sein schnurrbärtiges Gesicht. „Kommen’s mit, Herr!“ bat er schmeichelnd und listig.
„Nein. Ich bin krank!“
„... alsdann ... b’hüet Gott ...“ Der Älpler tappte zur Türe. Sie schloss sich hinter ihm. Ich war allein und streckte mich müde zu neuem Schlaf ...
Aber ich fand ihn nicht. In der tiefen Dunkelheit umstrich mich eisig und unheimlich der beim Öffnen der Türe hereingelangte Hauch des Winters, durch die Totenstille, die draussen herrschte, klang zuweilen, in wildem Stöhnen anschwellend, das Wehen des Bergwinds und rüttelte an den Fensterangeln und pochte an den Läden, als begehre irgendein finsteres Spukgebilde der Nacht Einlass in meine Hütte.
So lag ich wachend da. Mein Herz klopfte — zum ersten- und einzigenmal, solange ich die Alpeneinsamkeit kenne — und mein Zurückbleiben begann mich zu gereuen. Wäre ich doch mit den Engländern fortgegangen! Dann schritte ich jetzt doch wenigstens unter Menschen über knirschenden Schnee dem fern am Himmel aufdämmernden Morgen entgegen, statt hier allein zu wachen und zu harren in dem unerklärlichen, immer stärker werdenden Grauen, das mich beim Weggang der Touristen erfasst hatte.
Und