Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Читать онлайн книгу.geriet Charippos in Bestürzung. Ihm war wie einem Priester, vor dessen Augen der Altar bespieen wird, an dem er soeben gebetet. Es ward ihm unbehaglich in Arrhidäos’ Nähe. Unruhig schaute er sich um und sagte: »Der Tag bricht an, ich muß gehen.«
»Gut,« erwiderte Arrhidäos, »gehen wir, ich will dich begleiten. Aber du mußt langsam gehen, ich fühle mich etwas matt. Es ist die weiche süße Luft in Babylon, die den Menschen erschöpft. Wo liegt deine Abteilung?«
Beide hatten sich erhoben. Charippos besann sich. »Es ist ein Kanal da … gegen Mittag,« stotterte er verlegen, »und gegen Mitternacht sieht man den großen Palast. Jedenfalls ist es weit von hier.«
Sie schritten durch die Dämmerung des Hains. Der Duft wohlriechender Kräuter erfüllte die Luft, und es herrschte eine wundervolle Stille. Als sie die Straße erreicht hatten, war sie schon in die warme, sanfte Glut der Morgenröte getaucht. Die Gipfel der Bäume neigten sich unhörbar und schienen bis ins Innerste von purpurnem Licht getränkt. Ein frischer feuchter Wind wehte, und graublaue Wolken zogen in außerordentlicher Höhe über den flachen Dächern. Kein Mensch war zu sehen. Laut schreiend zog ein Schwarm von Kranichen über den erwachten Hain.
Mit Verwunderung beobachtete Charippos die Gestalt des Arrhidäos, der in langen Zügen die Morgenluft durch die geblähten Nüstern sog. Über der schlechten und abgerissenen makedonischen Rüstung trug er einen herrlichen Saffran-Mantel mit Goldsaum und Palmettenstickerei, das einzige Geschenk seiner unglücklichen Mutter. Das schwarze Haar hing in dünnen Strähnen zu beiden Seiten des Gesichts herab. Auf seinem Kopf saß eine Lammfellmütze.
Eine Zeitlang gingen sie wortlos nebeneinander her. Plötzlich sagte Arrhidäos mit der ihm eigenen kindlichen Leidenschaftlichkeit: »Du gefällst mir, Charippos. Du hast etwas Bescheidenes und Aufrichtiges in deinem Wesen. Das tut mir wohl, denn ich habe in meinem Leben nichts als Hoffart und Falschheit erfahren. Zum Beispiel die Leute, die mit mir nach Asien gekommen sind, haben mich alle verlassen, weil ich sie nicht gleich bezahlen konnte. Und ich war ihnen ein guter Herr, das darfst du mir glauben. Sei mein Freund, Charippos, laß uns Freunde sein.«
Mit schwankender Empfindung vernahm Charippos diese Worte. Auf so unmittelbare Hingebung war er nicht gefaßt und sie verringerte sein Vertrauen. Zaghaft legte er seine Hand in die sich ihm entgegenstreckende des Arrhidäos.
Karren, mit Gemüsen, Fleisch und Früchten beladen, fuhren vorüber, rollten dumpf über die Steinplatten des Pflasters, und auf den Kanälen glitten ruhig die kleinen Getreideschiffe hin.
»Jetzt erkenn’ ich den Weg!« rief plötzlich Charippos voll Freude. »Von dieser Brücke aus müssen wir nach links, an dem Obelisk vorbei, da bin ich gestern gegangen.«
Arrhidäos blickte nachdenklich vor sich nieder. »Du bist am Ziel,« sagte er seufzend, »das meine ist noch weit.«
Eine flüchtige, aber schreckliche Ahnung durchzuckte Charippos. Er fing an, schneller zu gehen, so daß ihm Arrhidäos kaum zu folgen vermochte. Sie gelangten zu einem Olivenwäldchen, und da blieb Arrhidäos stehen. Sein Gefühl von Würde sträubte sich gegen diese Hast, die man nur an Sklaven wahrnimmt. Er ließ sich am Fuß eines der grünlichen Stämmchen nieder und rief Charippos zu, daß er in einer kleinen Weile nachkommen werde. Es drängte ihn, hier zu verweilen und zu träumen, ein Trieb, der oft wie ein krankhafter Anfall über ihn kam und dem er nicht widerstehen konnte. Es war ein schmerzliches qualvolles Sinnen, das ihn bewegte und sein Gemüt aufrüttelte.
Er nahm eine Handvoll Datteln und etwas Bäckerei aus der Manteltasche und begann zu essen. Doch jeder Bissen widerte ihn an. Es war, als ob alle Hindernisse, die sein Wollen fand, sich wie Mauern um ihn erhoben und ihn gefangen hielten. Er warf Früchte und Backwerk fort und, die verschlungenen Hände um die Knie gefaßt, schaute er verzweiflungsvoll vor sich hin. So war immer sein Alleinsein beschaffen: Seelenkrampf; ein Überschwellen des Kummers um ein unbekanntes, unerreichbares, gestaltloses Ziel; Streit mit den eigenen Träumen, uferlose Trauer. Da versagte ihm die Vernunft jede Hilfe, die Phantasie jeden Trost.
Charippos, an der Uferböschung hinabschreitend, gewahrte bald die Zelte seiner Abteilung. Aber was für ein Anblick bot sich seinen Augen! Es war kein friedliches Lager mehr, es war ein Tumult. Die Söldner rannten durcheinander, schon von weitem war ihr Geschrei zu hören. Mit fuchtelnden Armen schrieen sie, und ihre Gesichter waren bleich.
Kaum sahen sie Charippos, als ihm sieben oder acht entgegenstürzten.
Ein unerhörter Frevel war geschehen. Hephästions Leichnam war geraubt.
Mit einem Aufschrei fiel Charippos zu Boden.
Der Hauptmann Agenor kniete neben ihn hin und rüttelte ihn an den Schultern. Die andern tobten und schrieen, wie sie vorher getobt und geschrieen hatten. Das Schuldbewußtsein würgte sie, erdrückte sie. Das Geständnis ihrer Ausschweifungen an diesem Ort, ihrer Pflichtvergessenheit mußte allen den Tod bringen. Ihre einzige Hoffnung war Charippos gewesen. Die Räuber verfolgen? wohin? wer war es? in welchem Teil der unermeßlichen Stadt hielt er sich auf? Die Verwirrung wurde immer größer.
Da erschallte ein erstickter Ruf, und hundert Stimmen flüsterten, stammelten den gefürchteten Namen Perdikkas.
Von Agenor gestützt, richtete sich Charippos langsam empor. Aus seinem Gesicht war jedes Zeichen des Lebens entschwunden. Er riß sich von Agenor los und stürzte mit brüllenden. Aufschrei Perdikkas zu Füßen, dessen Knie umklammernd.
Der Leibwächter verfärbte sich und fragte, was geschehen sei. Agenor trat herzu und wollte sprechen. Er konnte nicht, die Worte blieben tonlos im Hals. Sein ausgestreckter Arm wies auf das entweihte Totenzelt. Mit einem Satz, einem Sprung war Perdikkas dort. Die Söldner starrten zur Erde, wo zerbrochene Kannen und zerfetzte Kränze lagen. Jenes Zelt, dessen Türvorhang verbrannt war, schaute wie mit einem hohlen Auge auf die Schweigenden.
Schnell hatte sich Perdikkas gefaßt. Durch kurze Fragen entpreßte er den Zunächststehenden, was er wissen mußte. Alexander gegenüber war er allein verantwortlich. Unabsehbare Folge trug es für ihn, wenn Alexander in Erfahrung brachte, was sich hier ereignet hatte. Mit gewaltiger Anstrengung sammelte Perdikkas alle Besonnenheit, deren er fähig war. Sein gelbliches Gesicht schrumpfte zusammen, die weißen Brauen unter der unschönen Stirn ballten sich wie Wolken, und als er unter die stillwartenden Söldner zurückschritt, war sein Entschluß fertig.
»Charippos!« rief er mit metallisch tönender Stimme.
Charippos wankte in die Mitte des schnell gebildeten Kreises. Ein Schauer nach dem andern huschte über sein jünglinghaft hübsches Gesicht.
»Ein Soldat, der seinen Posten verläßt, muß sterben,« sagte Perdikkas. »Wenn ein Befehlshaber es tut, soll er dreifach sterben. Ich verurteile dich ohne Stimmenabnahme zum Tod, Tetrarch. Isäos! Euthios! Anytos! tut eure Pflicht!«
Charippos hatte bis jetzt so heftig an Armen und Beinen gezittert, daß es aussah, als wolle er von neuem hinstürzen. Doch als er das Urteil vernommen hatte, kehrte eine eigentümliche Ruhe in ihn ein. Die Züge seines wachsbleichen Gesichts versteinerten sich, die blauen Augen erhielten einen dunklen stählernen Schimmer, sie schienen gefüllt von den gefrorenen Träumen seines einst so ungestümen Ehrgeizes. Er sah und erkannte, daß ihm nichts übrig war als wie ein Mann zu sterben. So kreuzte er mit heldischer Gebärde die Arme über der Brust, als die drei Makedonier mit gezogenen Schwertern auf ihn eindrangen. Mechanisch wich er einen einzigen Schritt zurück, mechanisch lächelte er, dann spürte er einen wahnwitzigen Schmerz in der Brust, ein Ding so kalt wie Wasser in seinem Bauch, und ächzend stürzte er vornüber zu Boden. Noch ein Augenblick schwerer Todesangst, und es war aus mit ihm.
Perdikkas trat an die blutbegossene Leiche und winkte den Söldnern, daß sie sich dichter um ihn scharen sollten. Mit unterdrückter Stimme begann er zu reden. Er sagte, daß sie eigentlich alle das Leben verwirkt hätten, und daß es nur ein Mittel zu ihrer Rettung gäbe: unverbrüchliches Schweigen über die Ereignisse der Nacht und des Morgens. Er forderte sie zum feierlichen Schwur auf, und die Söldner, von Freude berauscht, daß sie so leichten Kaufs davonkommen sollten, erhoben den Arm. Sie glaubten, einen Beweis der Gnade und Liebe