Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud
Читать онлайн книгу.konstitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet.
Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger leicht aufzufinden und erregen, wenn gefunden, ein grösseres Befremden. So merkte ich in früheren Jahren, dass ich bei einer grösseren Anzahl von Krankenbesuchen nie an einen anderen Besuch vergesse als bei einem Gratispatienten oder bei einem Kollegen. Aus Beschämung hierüber habe ich mir angewöhnt, die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren. Ich weiss nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu der gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine Ahnung davon, was den sog. Neurastheniker veranlasst, die Mitteilungen, die er dem Arzt machen will, auf dem berüchtigten »Zettel« zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an Zutrauen zur Reproduktionsleistung seines Gedächtnisses. Das ist gewiss richtig, aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der Kranke hat seine verschiedenen Beschwerden und Anfragen höchst langatmig vorgebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht er einen Moment Pause, darauf zieht er den Zettel hervor und sagt entschuldigend: Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich mir so gar nichts merke. In der Regel findet er auf dem Zettel nichts Neues. Er wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn selbst: Ja, darnach habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit dem Zettel, wahrscheinlich nur eines seiner Symptome, die Häufigkeit, mit der seine Vorsätze durch Einmengung dunkler Motive gestört werden.
Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der grössere Teil der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, dass ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder dass es mir besonders leicht begegnet, Zahlungen durch Vergessen aufzuschieben. Unlängst verliess ich eines Morgens die Tabaktrafik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf gemacht hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unterlassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten, am nächsten Tag an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiss nicht ausser Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich den Vortag über beschäftigt hatten. In bezug auf das Thema von Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Verhaltens auch bei den meisten sog. anständigen Menschen leicht nachweisen. Die primitive Gier des Säuglings, der sich aller Objekte zu bemächtigen sucht (um sie zum Munde zu führen), zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch Kultur und Erziehung überwunden.
Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn ich auf Dinge stosse, die jedermann bekannt sind, und die jeder in der nämlichen Weise versteht, da ich bloss vorhabe, das Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich sehe nicht ein, weshalb der Weisheit, die Niederschlag der gemeinen Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit der Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung und das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen den wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.
Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein gefunden, dass sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsätzen erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, dass ein Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt, nachdem zwischen jenem andern und dem Inhalt des Vorsatzes eine äusserliche Assoziation hergestellt worden ist. Hierzu gehört folgendes Beispiel: Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die Stadt neues einzukaufen. Aber an vier aufeinanderfolgenden Tagen vergesse ich daran, bis ich mich befrage, welchen Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem ich mich besonnen habe, dass ich zwar »Löschpapier« zu schreiben, aber »Fliesspapier« zu sagen gewöhnt bin. » Fliess« ist der Name meines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen Tagen Anlass zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben hat. Diesen Gedanken kann ich nicht los werden, aber die Abwehrneigung (vgl. Seite 39) äussert sich, indem sie sich mittelst der Wortgleichheit auf den indifferenten und darum wenig resistenten Vorsatz überträgt.
Direkter Gegenwille und entferntere Motivierung treffen in folgendem Falle von Aufschub zusammen: In der Sammlung »Grenzfragen des Nerven-und Seelenlebens« hatte ich eine kurze Abhandlung über den Traum geschrieben, welche den Inhalt meiner »Traumdeutung« resümiert. Bergmann in Wiesbaden sendet eine Korrektur und bittet um umgehende Erledigung, weil er das Heft noch vor Weihnachten ausgeben will. Ich mache die Korrektur noch in der Nacht und lege sie auf meinen Schreibtisch, um sie am nächsten Morgen mitzunehmen. Am Morgen vergesse ich daran, erinnere mich erst nachmittags beim Anblick des Kreuzbandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso vergesse ich die Korrektur am Nachmittag, am Abend und am nächsten Morgen, bis ich mich aufraffe und am Nachmittag des zweiten Tages die Korrektur zu einem Briefkasten trage, verwundert, was der Grund dieser Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht absenden, aber ich finde nicht, warum. Auf demselben Spaziergang trete ich aber bei meinem Wiener Verleger, der auch das Traumbuch publiziert hat, ein, mache eine Bestellung und sage dann, wie von einem plötzlichen Einfall getrieben: ›Sie wissen doch, dass ich den »Traum« ein zweites Mal geschrieben habe?‹ – ›Ah, da würde ich doch bitten.‹ – ›Beruhigen Sie sich, nur ein kurzer Aufsatz für die Löwenfeld-Kurellasche Sammlung.‹ Es war ihm aber doch nicht recht; er besorgte, der Vortrag würde dem Absatz des Buches schaden. Ich widersprach und fragte endlich: ›Wenn ich mich früher an Sie gewendet hätte, würden Sie mir die Publikation untersagt haben?‹ – ›Nein, das keineswegs.‹ Ich glaube selbst, dass ich in meinem vollen Recht gehandelt und nichts Anderes getan habe, als was allgemein üblich ist; doch scheint es mir gewiss, dass ein ähnliches Bedenken, wie es der Verleger äusserte, das Motiv meiner Zögerung war, die Korrektur abzusenden. Dies Bedenken geht auf eine frühere Gelegenheit zurück, bei welcher ein anderer Verleger Schwierigkeiten erhob, als ich, wie unvermeidlich, einige Blätter Text aus einer früheren, in anderem Verlag erschienenen Arbeit über zerebrale Kinderlähmung unverändert in die Bearbeitung desselben Themas im Handbuch von Nothnagel hinübernahm. Dort findet aber der Vorwurf abermals keine Anerkennung; ich hatte auch damals meinen ersten Verleger (identisch mit dem der »Traumdeutung«) loyal von meiner Absicht verständigt. Wenn aber diese Erinnerungsreihe noch weiter zurückgeht, so rückt sie mir einen noch früheren Anlass vor, den einer Übersetzung aus dem Französischen, bei welchem ich wirklich die bei einer Publikation in Betracht kommenden Eigentumsrechte verletzt habe. Ich hatte dem übersetzten Text Anmerkungen beigefügt, ohne für diese Anmerkungen die Erlaubnis des Autors nachgesucht zu haben, und habe einige Jahre später Grund zur Annahme bekommen, dass der Autor mit dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.
Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, dass das Vergessen von Vorsätzen nichts Zufälliges ist. »Was man einmal zu tun vergessen hat, das vergisst man dann noch öfter.«
VII.
Das Vergreifen.
Der dankenswerten Arbeit von Meringer und Mayer entnehme ich noch die Stelle ( p. 98):
»Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich töricht »Vergesslichkeiten« genannt werden.«
Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet.
Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirrung von der Intention, bezeichne ich als » Vergreifen«, die anderen, in denen eher die ganze Handlung unzweckmässig erscheint, benenne ich » Symptom-und Zufallshandlungen«. Die Scheidung ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja wohl zur Einsicht, dass alle in dieser Abhandlung gebrauchten Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.
Das psychologische Verständnis des »Vergreifens« erfährt