Kinder der Zeit. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.alle Strassen geräumt. Das Schloss sofort.“ — „’raus alles, was hier nichts zu suchen hat . . . Marsch, an die frische Atmosphäre, junge Frau!“
„Das gilt mir! Nun werden wir hier auch noch ’rausgeschmissen, Prinzess.“
Das Fräulein von Oberwolff starrte ratlos, vom Strom der Hinausflutenden geschoben, um sich. Nirgends ein vertrautes. Gesicht. Da ein Stossseufzer der Erlösung . . . ein alter Herr, der wie ein greiser Geistlicher im Alltagskleid aussah, irrte, ängstlich nach allen Zeiten spähend, durch das Gewühl.
„Gott sei Dank . . . Gerke . . . Wo sind die Herrschaften?“
„Die höchsten Herrschaften . . .,“ der Haushofmeister lispelte mit klappernden Zähnen, „die höchsten Herrschaften sind schon vor einer halben Stunde, gleich nach Unterzeichnung der Abdankungsurkunde, in Autos fort.“
„Wohin?“
Nach Hubertusgnad! Dort wartet man auf die Prinzess! Unten am Apothekector steht ein Auto bereit!“
„Laufschritt, Hoheit! . . . Die Küchentreppe ’runter. Der Gerke weiss Bescheid . . . Stossen Sie sich nicht in dem finstern Flur . . . Da vorn wird’s hell . . . Da hält das Schnauferl!“
„Gott, wie klein! Und alles sitzt ja schon voll!“
Eine greise, winzige Mumie, die neunzigjährige, anfangs in der Aufregung vergessene Prinzess Friederike, freundlich lächelnd, mit den Knochenhändchen huldvoll dem lachenden Volk zuwinkend. Gegenüber, bitterlich in das Spitzentuch schluchzend, ihre auch schon siebzigjährige Hofdame und die Oberhofmeisterin. Deren drei kleine Kinder vorn, neben dem Führersitz. Am Steuer der diensttuende Generaladjutant.
„Rasch ’rein, Hoheit! Sonst beschlagnahmen sie uns das Auto.“
„Ja, aber . . .“
„Schnell . . . schnell . . . Prinzess . . .“
„Aber . . .“
“Bitte untertänigst einzusteigen! So!“
„Ja, aber die Oderwolff!“
„Für Fräulein von Oderwolff ist kein Platz mehr.“
„Die Oderwolff kann doch nicht hier allein . . .“
„Beim besten Willen nicht, Hoheit . . .“
„Auf dem Trittbrett . . .“
„ . . . fahren Bewaffnete zum Schutz mit!“
„Aussteigen! Die Blase!“
„. . . ’raus aus der Schatulle! Wollt ihr wohl!“
„Wir müssen fort! Sie sehen die Stimmung des Volkes, gnädiges Fräulein!“
,,So fahren Sie doch schon, Exzellenz! Was liegt denn an mir?“ rief Asta Oberwolff ungeduldig und stampfte mit dem Fuss. Der Generaladjutant gab den knatternden Motor frei. Der Wagen schoss durch die stiebenden Gruppen, flog surrend um die Ecke, war verschwunden.
Nur noch ein bisschen Benzingestank in der Luft . . . Asta Oderwolff stand . . . fuhr sich mit der Hand über die Augen . . . sah sich um . . . ein sonderbares Gefühl . . . plötzlich mutterseelenallein . . . Sie ging mechanisch über die Gasse nach dem Apothekertor zurück.
„Sachteken, Fräulein! Kein Eingang! Befehl: Alles ’raus, niemand ’rein!“
„Aber ich wohne doch da oben im Schloss!“
„Kann jeder sagen! Haben Sie ’nen Ausweis vom Arbeiter- und Soldatenrat? Sind Sie dort bekannt? Nee? Also nischt zu machen! Mahlzeit, Krause! . . . Marsch, ’rin mit dir, Mensch! Sie warten schon auf dich, oller Dussel!“
Asta Oberwolff schritt langsam um das Schloss herum, schaute lange auf die Armbanduhr. Komisch: Vor fünfzig Minuten hatte man noch den grossen Schwan gefüttert. Da stand die Welt noch. Inzwischen war sie untergegangen. Alles weg mit einem Schlag.
Rote Fahnen über den ineinandergekeilten Hüteknäueln vor dem Schloss. Von den Prellsteinen gellende Kehltöne der Volksredner. Drüben dumpfer Massengesang. Ein paar kurze, laute Hammerschläge. Aufschreie.
„Handgranaten!“
„Ein M. G.“
„Ach, Quatsch!“
„Schauen Sie lieber, dass Sie hier wegkommen! Das ist nichts für Sie!“ riet hinter Asta Oderwolff eine Stimme. Als sie sich umdrehte, war der Warner verschwunden in der Menge.
Weg von hier? . . . Aber wohin? . . . Obdachlos . . . Ein kalt rieselnder Schrecken. Es begann schon zu dämmern. Um sechs musste alles von der Strasse. Dann stand man da . . . auf dem Pflaster. . . Zum Glück dunkel angezogen . . . Aber festgenommen wurde man womöglich . . . Und wenn nicht . . . wo blieb man die Nacht? . . .
Wohin? . . . um Himmels willen: wohin? Das Fräulein von Oderwolff rannte durch die Gassen. Da war das Viertel der schönen Welt. Feierliche Häuser . . . aber überall . . . fast überall herabgelassene Vorhänge . . . Haben es die Leute denn schon alle vorher gewusst? . . . Waren nur wir blind, die’s am ersten anging? . . . Zum Landstallmeister! Ja, zum Landstallmeister! Da ist sein Palais. Der lässt die Freundin seiner Töchter nicht vor der Tür stehen . . . Wie lang das dauert, bis sie die Tür aufmachen! Wie? Herr Baron sind mit Familie schon gestern hinaus nach dem Gestüt Heidekamp? Ach so! Danke . . .
Gegenüber ins Generalkommando . . . der Kommandierende, ein dicker Freund von Papa, wenn auch Papa viel jünger ist und als Feldherr im Osten steht . . . Der Kommandierende? . . . Ein dröhnendes Gelächter der Feldsgrauen in der Torwache: Die Exzellenz hatte die laufenden Geschäfte dem Soldatenrat übergeben und war still davongegangen . . .
Nun graute der Herbstabend schon drohend. Nur schnell . . schnell . . . Im Laufschritt längs der Häuser hin. In die Fürstenstrasse. Da kann man lange an den eleganten Billen läuten . . . Es regt sich nichts. Aus dem Nebenhaus schrillt eine Weiberstimme: Frau Kommerzienrat Siegstorff ist doch in die Schweiz . . .
Immer finsterer die Schatten . . . Grosser Gott . . . Grosser Gott . . . Es ist keine Zeit mehr zu verlieren! Man muss sich zu den Behörden flüchten! Zum Staatsminister . . . Zu Exzellenz Ölmüller . . . Vorige Woche erst sass ich links von ihm an der Marschalltafel. Wie aufsässig das öffnende Mädchen lächelt: „Ölmüllers sind heute mittag zu Fuss auf die Bahn! Die Damen haben selber ihre Handtaschen getragen . . .“
Die Strassen so unheimlich . . . dämmerig-drohend . . . Nur noch hie und da ein Mensch . . . Und der sputet sich . . . Bald ist das Pflaster ganz leer . . . Die Nacht kommt . . . Die schwarze Nacht . . . Irgendwohin muss ich doch . . . Da: der Turm der Hofkirche. Der Hofprediger muss doch dageblieben sein. Die Fenster seiner Dienstwohnung sind hell. Menschenschatten dahinter . . . Menschen in allen Zimmern. Feldgraue. Matrosen. Zivilisten. Offene Schränke. Verstreute Papiere. Haussuchung. Der Superintendent völlig verfallen, halb geistesabwesend, im Sessel.
„Bei mir finden Sie nichts, meine Herren! Weder Waffen noch Butter! . . . Wer? Ach, Sie, Fräulein von Oderwolff! . . . Unterkunft? Kind . . . . Sie sehen ja . . . Meine Damen? . . . Schon lange aufs Land . . .“
„Ja, aber was soll ich denn machen? Ich wach’ ja morgen tot auf!“
„Nach Hause fahren, Kind! Nach Berlin! Zu den Ihren! So schnell wie möglich! Ihr Vater, der General, ist ja jetzt auch auf Urlaub dort!“
„Aber wie hinkommen?“
„Wenn Sie die Beine unter die Arme nehmen, Fräulein,“ schrie ein bärtiger Landsturm-Unteroffizier aus dem Nebenzimmer, „dann erwischen Sie noch den Abendzug! Ist ja nur ’ne Minute bis zum Bahnhof!“
Krieg ich denn ’ne Fahrkarte?“
„Da! Ich geb’ Ihnen ’nen Ausweis mit! Den zeigen Sie am Schalter! Aber nun marsch, marsch!“
Den ohnedies Knöchelkurzen Rock gerafft! Drei Treppenstufen auf einmal. Atemlos auf die Gasse. Sprünge über die Pfützen im holperigen Pflaster vor dem Bahnhof. Schon stockfinstere Nacht. Der Zeiger auf der grossen,