Aristoteles. Eine Einführung. Wolfgang Detel

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Aristoteles. Eine Einführung - Wolfgang Detel


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halten dürfen, dann haben wir (a) in (c) und (d) sowie (b) in (e) und (f) analysiert, denn (c), (d) ⇒ (a) und (e), (f) ⇒ (b) sind offensichtlich syllogistisch gültige Schlüsse.

      Empirische Anwendungen von Analysen dieser Art machen verständlich, warum Aristoteles fordern muss, dass der erste Schritt bei der Etablierung einer angemessenen wissenschaftlichen Theorie darin besteht, universelle empirische Fakten festzustellen. Und wir haben ein empirisches universelles Faktum der Art AaB festgestellt, wenn wir so viele B-Dinge wie möglich empirisch untersucht und herausgefunden haben, dass jedes untersuchte B-Ding die Eigenschaft A hat. Die Aufzählung endlich vieler solcher Beispiele in einer Liste nennt Aristoteles »Anführung«; das ist seine Auffassung von »Induktion«. Eine [29]induktive endliche Liste ohne Gegenbeispiel ist dann natürlich ein exzellenter Grund dafür, den universellen Satz AaB (»Alle B-Dinge sind A« oder »A kommt allen Bs zu«) für wahr zu halten (Aristoteles redet hier allerdings nicht von einem induktiven Schluss). Erst die Fakten, dann die Erklärung – das ist die Devise, die Aristoteles nicht müde wird zu betonen (APo. II 1–2). So hat er auch selbst ein großes biologisches Werk verfasst, das eine reine Faktensammlung beinhaltet und sich aller Analysen und Erklärungen enthält – die Historia Animalium (die Erkundung der Tiere) in zehn Büchern.

      Doch welche Rolle spielt die empirische Erfahrung für die Konstatierung empirischer Regularitäten und Prinzipien genauer? Nach Aristoteles entsteht die empirische Erfahrung in vier kognitiven Schritten (APo. II 19):

      (1) Wahrnehmung: das Erfassen und Unterscheiden verschiedener Qualia (etwa das Gelbe, Große, Kalte oder Bewegte).

      (2) Speicherung und Erinnerung an vergangene Wahrnehmungen der Stufe 1.

      (3) Induktion, empirische Erfahrung: Mengen singulärer Fakten der Form »x ist B« (geschrieben B(x)), wobei Träger x und Eigenschaft B auseinandertreten und die verschiedenen Instanzen B(x), B(y), B(z) (oft auch in der komplexen Form B(x) ⇒ A(x), B(y) ⇒ A(y), B(z) ⇒ A(z) …) als ähnlich empfunden werden. Dabei kommt das B und gegebenenfalls das A in der Seele zum Stehen.

      (4) Wissen, Einsicht: Vernetzung der empirischen Erfahrung durch logische Analyse.

      [30]Diese Stufen folgen genetisch aufeinander, stellen also eine genetische Epistemologie dar. Die Stufen 1 bis 3 sind kognitive Prozesse auf nicht-sprachlicher Ebene, die dem Wahrnehmungsprozess inhärent sind.

      Aristoteles ringt an dieser Stelle mit einem ewigen Problem der Wahrnehmungstheorie und des Empirismus: Inwieweit greifen in einen zunächst passiv verstandenen Wahrnehmungsprozess strukturierende Mechanismen ein? Die genetische Epistemologie spiegelt die bedeutende Einsicht, dass empirische Erkenntnis auf der grundlegendsten Ebene nicht auf Prozessen beruht, die sich in Begriffen von Sprache, Logik und Begründung fassen lassen, sondern auf eingespielten und verlässlichen natürlichen Prozessen (die aus heutiger Sicht Strukturerfassung, Merkmalanalyse und Gestaltgesetze umfassen). Damit sind für Aristoteles die tiefsten Grundlagen des Empirismus skizziert.

      Wenn nun auf diese Weise für einen bestimmten Gegenstandsbereich möglichst viele Fakten gesammelt und mittels Induktionen in Behauptungen über universelle Fakten überführt worden sind, muss für den Aufbau einer guten Theorie in einem zweiten Schritt die Analyse und Synthese dieser Fakten erfolgen. Damit werden die Sätze über gefundene Fakten, wie beschrieben, in eine logische Ordnung gebracht. Es ist von großer Bedeutung, dass die Analyse grundsätzlich eine Bottom-up-Prozedur ist – von den Konklusionen hoch zu den Prämissen und gegebenenfalls zu den Prämissen der Prämissen, bis wir zu den unvermittelten Prämissen gelangen. (In der Syllogistik wurden die Zeilen formaler Beweise, wie in der heutigen Logik und Mathematik, vertikal von den höchsten Prämissen bis hinunter zur Konklusion geschrieben.) Diese Prozedur stellt [31]kein logisches Verfahren dar, denn im Allgemeinen können wir nicht von den Konklusionen rein logisch auf die Prämissen schließen. Vielmehr handelt es sich um eine kreative Theorienkonstruktion. Allerdings unterliegt die Auffindung der Prämissen zu einem gegebenen universellen Satz der logischen Bedingung, dass diese Prämissen den gegebenen Satz logisch herzuleiten gestatten. Diese logische Herleitung wurde später auch Synthese genannt, weil sie den gegebenen Satz, etwa AaB, aus den Prämissen, etwa AaC und CaB, »zusammensetzt«, z. B. in der Form A(a) – AaC, CaB – B. Eine vollzogene Analyse enthält also bereits einen Teil der Synthese, die dadurch komplettiert wird, dass wir aus den gefundenen Prämissen möglichst viele weitere Konklusionen über die Ausgangssätze hinaus ableiten. Dadurch entsteht ein komplexes logisches Netz von empirisch akzeptierten Sätzen über die Welt.

      Aristoteles nennt den epistemischen Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir die Analyse für einen Untersuchungsbereich abgeschlossen haben, Einsicht (nous) (Metaph. IX 10, An. III 6). Dieser epistemische Zustand beinhaltet unter anderem die Kenntnis der höchsten unvermittelten Prämissen, die in der Analyse auftauchen (APo. I 23; I 33). Aber es wäre grundfalsch zu sagen, dass das Vermögen der Einsicht die Fähigkeit ist, unvermittelt die höchsten Prämissen zu erfassen, aus denen dann »top-down« alle Theoreme der Theorie logisch abgeleitet werden. Die Einsicht entsteht nicht am Beginn einer Synthese ohne vorherige Analyse, sondern am Ende von Analyse und Synthese. Man könnte sagen, dass am Ende von Analyse und Synthese die Theoreme einer Theorie axiomatisiert worden sind, denn sie sind in eine logische Ordnung [32]gebracht. Aber es handelt sich nicht um eine Axiomatisierung im modernen Sinne, die mit der Idee verbunden ist, die Menge der obersten Prämissen möglichst klein zu halten und damit den gesamten Inhalt einer Theorie in wenigen Theoremen zu komprimieren. Eine analytische Axiomatisierung im aristotelischen Sinn wird ungefähr ebenso viele oberste Prämissen wie unterste Konklusionen enthalten (APo. I 32). Ihr Ziel ist nicht Komprimierung, sondern im Gegenteil analytische Entfaltung des Gehalts der komplexeren Theoreme, so dass wir durchschauen können, aus welchen Elementen unser Untersuchungsbereich besteht und wie er aus diesen Elementen zusammengesetzt ist. Die leitende Idee der klassischen antiken Philosophie zur allgemeinen Struktur des Wissens kommt in diesem Entwurf also voll zum Tragen und wird im Detail ausgearbeitet.

      Selbst eine vollständige und abgeschlossene Analyse und Synthese im bisher skizzierten Sinne bietet aber noch keine Erklärungen, denn sie verweist aus sich heraus noch nicht auf Ursachen. Zum Aufbau einer erklärungskräftigen Theorie ist jedoch auch die Erforschung der Ursachen erforderlich. Was sollen wir nun genauer unter Ursachen verstehen? Aristoteles entwickelt die historisch erste präzise Antwort auf diese Frage – die Theorie von den vier aristotelischen Ursachen. Wir dürfen allerdings aristotelische Ursachen nicht mit kausalen Ursachen im modernen Sinne verwechseln. Die moderne Standardtheorie zum Ursachenbegriff beruht auf der Idee, dass Ursachen (a) früher als ihre Effekte sind, (b) hinreichende Bedingungen für ihre Effekte sind und (c) in naturgesetzlichen Beziehungen zu ihren Effekten stehen. Wenn wir eine Ursache und das [33]entsprechende Naturgesetz kennen, können wir dieser Idee zufolge den Effekt vorhersagen.

      Aristotelische Ursachen erfüllen diese Bedingungen nicht. Beispielsweise ist (i) das Faktum, dass Statuen aus Bronze sind, eine aristotelische Ursache für das Faktum, dass diese Statuen schwer sind; oder (ii) das Faktum, dass die Erde zwischen der Sonne und dem Mond steht, ist eine aristotelische Ursache für eine Mondfinsternis; oder (iii) die Erhaltung der Gesundheit ist eine aristotelische Ursache für Spaziergänge nach dem Essen oder vergleichbare Maßnahmen zur Förderung der Verdauung; und schließlich ist (iv) das Faktum, dass die Saite einer Laute im Verhältnis 1 : 2 geteilt wird, eine aristotelische Ursache für die Erhöhung des Tons um eine Oktave. Diese aristotelischen Ursachen sind nicht früher als ihre Effekte, und sie sind notwendig für ihre Effekte. Wenn wir eine aristotelische Ursache kennen, können wir im Allgemeinen ihre Wirkung nicht vorhersagen; eher können wir aus Effekten auf aristotelische Ursachen schließen (APo. II 11–17). Aristoteles’ Kernidee ist, dass jeder Verweis auf die Ursache einer Wirkung die Frage beantworten muss, warum die Wirkung zustande gekommen ist. Und seine These ist, dass es vier verschiedene Arten von Antworten auf Warum-Fragen gibt: Die eine Antwort verweist auf das Material der betrachteten Dinge (wie in Fall (i)), eine zweite auf den Bewegungsursprung (wie in Fall (ii)), eine weitere auf das Ziel (wie in Fall (iii)) und eine vierte auf die formale Struktur (wie in Fall (iv)). Dementsprechend sind nach Aristoteles vier Arten von Ursachen auszumachen: die materiale, die effiziente, die finale und die formale Ursache (APo. II 11; Phys. II 3).

      [34]Der Begriff der finalen Ursache ist von


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