Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer. Lise Gast

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Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer - Lise Gast


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Peitsche, die ihm der Doktor immer erst hinaufreichte, stramm in der Hand.

      Dr. Haberland ließ den Wagen nie vor dem Haus warten, sondern an der Hintertür. Wenn Schorschel mitfuhr, durfte er neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen, aber auch er bekam die Zügel nicht in die Hand.

      Ja, die Peitsche. Der Doktor behauptete immer, kein Kutscher könne mit Peitschen umgehen, er nahm sie stets, wenn er von einem Patientenbesuch heimkam, mit ins Haus, trug sie in die Eßstube und stellte sie hinter den Glasschrank. Seine Frau mochte das nicht leiden.

      »Du siehst aus wie ein Pferdehändler«, sagte sie manchmal, wenn er, die Peitsche in der Hand, sich vor ihrem Lehnstuhl verbeugte. Dort blieb er auch stehen, wenn er wieder einmal losgedonnert hatte, was sie gar nicht liebte. Er war ein ausgesprochen aufbrausender Typ.

      »Na, Frau Rat?« fragte er dann, seine Augen zu ihr aufgeschlagen, halb ernsthaft und halb lustig. Er hatte friderizianisch blaue Augen, die manchmal dunkel, manchmal blitzend hell waren, mitunter auch veilchenfarben.

      »Ist schon gut«, sagte sie dann, von seinem Charme bezwungen. Er hatte einen ungeheuren Charme, der Doktor Haberland, das machte ihn unwiderstehlich. Versöhnt stapfte er hinaus.

      Es war eine gute Ehe, so verschieden die beiden Partner auch sein mochten. Sie groß und füllig, er kleiner als sie und beweglich. Von ihr, der Frau Rat, stammte das schöne Wort:

      »In den vielen, vielen gemeinsamen Jahren denkt man doch manchmal: Jetzt hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Aber da braucht nur eine große Freude oder ein großer Schmerz zu kommen, und eine Hand greift nach der anderen.«

      Noch ein Wort, eine Lebensmaxime, stammte von ihr:

      »Ich will nicht unglücklich sein.« Dieses Wort sollte ihren Kindern und Enkeln, die es nie vergaßen, viel und oft helfen.

      Sie dachte es auch an diesem Silvesterabend. Der ›kleine Fritz‹, das spät empfangene zweite Kind, wurde schon bald erwartet. Ob sie die Geburt überstehen würde, vierzig Jahre alt jetzt, nach so langer Pause? Sie rechnete nicht damit, sprach es aber nie aus. Er, der Vater, freute sich so kindlich auf den Sohn.

      ›Fritz‹ sollte er heißen, das stand längst fest. Fritz war ein alter Familienname, es gab viele Fritze in der Haberlandschen Familienreihe. Auch er, der Doktor, stammte aus einem großen Geschwisterkreis; zehn waren sie gewesen, aber nur fünf wurden groß. Sein Vater war Handwerker, ein Färber; er, Rudolf, der erste Akademiker in der Familie. In der Schule sehr gut, machte er ein hervorragendes Abitur. Dann studierte er voller Eifer und Interesse, promovierte mit summa cum laude.

      Seine erste Praxis eröffnete er in Reichenstein, dort wurde auch Regine geboren. Die Praxis lief nicht gut, ein alter einheimischer Kollege hatte den größeren Zulauf. Dr. Haberland bezeichnete seine Praxis als die mit der nicht gezogenen Klingel, bis ihm ein glücklicher Zufall eine Patientin zuführte, die er von einem schier unstillbaren Husten befreite. In Reichenstein wurde im Bergwerk gearbeitet; ein Schacht hieß ›der goldene Esel‹. Es ging die Sage, daß man dort einmal einen Esel aus Gold gefunden hätte. Die Kumpels im Schacht brachen eines der goldenen Beine ab, gingen damit in die Stadt, verkauften es und versoffen das Geld. Als sie wiederkamen, um den restlichen Schatz zu holen, war er verschwunden. Seitdem grub und suchte man nach dem goldenen Esel.

      Wie in vielen Bergwerksorten ging auch in Reichenstein die Tuberkulose um, damals eine Volksseuche, die kaum zu besiegen war. Nachdem es Dr. Haberland geglückt war, jene Frau gesund zu machen, bekam er plötzlich Zulauf von Patienten. Trotzdem zog er weg. Camenz, das Dorf am Rande der Grafschaft, lockte ihn, nicht zuletzt wegen des kleinen Krankenhauses, das es dort gab. Es hieß das ›Mariannenhaus‹ nach der hohenzollerischen Prinzessin, die im Schloß wohnte, einem breiten Gebäude auf dem Berg, mit vier Türmen an den Ecken und einem Park von fünfhundert Morgen rundherum, in dem es Wasserspiele gab, ähnlich denen in Sanssouci, nur schöner. Das Schloß war nach einem Entwurf von Schinkel gebaut, später jedoch verkauft worden, als man merkte, daß man von den Fenstern nicht über die Stallgebäude ringsum hinübersehen konnte. Aber Schloß ist Schloß. Es wurde geliebt, und der Prinz, ein großer Gärtner vor dem Herrn, ging oft selbst mit der Baumschere umher und ästete aus. Wenn er ein Diner gab, wurde Dr. Haberland oft mit eingeladen, ein großes Fest für die ganze Familie. Einmal zerriß ein Hund ihm die Frackhose, kurz bevor er sie brauchte, und eine neue war im Dorf nicht zu beschaffen. Aber unter Frau Rats geschickten Fingern entstand eine kunstvolle Stopfstelle, niemand sah der Hose die Wunde an, und beim Diner brauchte Dr. Haberland nicht zu fehlen.

      Manchmal kam auch der Kaiser. Dann wurde auf dem Bahnhof ein roter Teppich ausgerollt, und alle Bahnbeamten standen stramm.

      Dr. Haberland war auch Bahnarzt und durfte erster Klasse fahren, unentgeltlich, was sogar Schorschel imponierte. Einmal fuhr der Doktor in einem Abteil mit einem großen, würdigen Herrn zusammen, den er nicht kannte. Als die Bahnstation nahte, an der er aussteigen mußte, stand der andere Herr auf, nahm einen dunklen Mantel um und schob sich einen ziemlich großen, auffallenden Ring über den Handschuh an den Finger. Dr. Haberland sah es staunend. Noch mehr staunte er, als er aus dem bremsenden Zug schaute und auf dem Bahnsteig eine Gruppe weißgekleideter Mädchen warten sah. Nanu, so ein Empfang? Wie oft war er hier schon aus dem Zug gestiegen, ohne daß er empfangen worden war!

      Er war nicht für große Empfänge. Schon stand er an der Tür, die von außen aufgerissen wurde, sprang hinaus – und ein fröhliches Lied erklang. Daß die Gesichter der Wartenden vor Erstaunen erstarrten, sah er noch, dann aber verschwand er mit der ihm eigenen Fixigkeit. Der hohe Herr, der erwartet wurde, war nämlich der Bischof. Schlesien war ein vorwiegend katholisches Land. Auch Haberlands waren katholisch.

      Sie waren keine fleißigen Kirchenbesucher. Aber einmal im Jahr wurde die Kutsche eingespannt, nicht, um zu kranken Leuten zu fahren, sondern nach Wartha, dem Wallfahrtsort einer wundertätigen Muttergottes. Dorthin fuhr die Frau Rat und beichtete. Der Doktor nannte das die Sündenfuhre.

      Als ob seine Frau einen Wagen gebraucht hätte, um ihre Sünden abzuladen!

      Als Regine zur Ersten Kommunion gegangen war, durfte sie mitfahren. In Wartha gab es wundervolle kleine Pfeffernüsse, Warthapusserle genannt, ein Grund mehr, sich auf die Sündenfuhre zu freuen.

      »Ich muß noch mal weg«, sagte der Vater, als das Bleigießen beendet war, »dauert nicht lange, ich geh’ zu Fuß.«

      »In den Ort?«

      »Zum Nentwig-Tischler, Viertelstunde.« Hinaus war er.

      »Zum Nentwig-Tischler?« Mutters Gesicht wurde nachdenklich. Sie kannte diese Geschichte, nicht der Vater hatte sie ihr erzählt, sondern die Frau des Patienten. Der hatte sich die rechte Hand verletzt, schlimm, so schlimm, daß man in Erwägung zog, sie zu amputieren. Aber einem Schreiner die rechte Hand abnehmen? Er bat und bettelte, noch zu warten, und der Doktor schwankte. Unterließ er die Operation, wie der Patient es wollte, so befürchtete er eine allgemeine Sepsis. Nahm er die Hand ab, so machte er den Mann arbeitsunfähig.

      Er entschied sich schließlich abzuwarten. Und siehe, sie hatten Glück. Es gab keine Sepsis, die Hand heilte. Nentwig war überglücklich und seine Frau auch. Sie brachte ein Körbchen mit herrlich duftenden Walderdbeeren ins Doktorhaus und weinte und küßte der Frau Rat die Hand. Dorthin war der Doktor also gegangen. Sollte etwa ...?

      Nein, nichts Gefährliches. Der Doktor ging nicht in die ›gutte Stube‹, wo der Christbaum noch stand und man Gäste von Rang empfing, sondern in die Werkstatt. Er fand Nentwig bei der Arbeit. Es roch gut nach Holz und Leim. Der Schreiner stand sofort auf, als er seinen Gast erkannte.

      »Nee, der Herr Duktor, nee nee, a su eene Ehre –«

      »Ich komm’ wegen dem Pferdel. Wegen dem Schaukelpferd –«

      »’s iees aber no nie fattich –«

      Ein etwa drei Spannen hohes Gebilde hielt er dem Doktor entgegen. Man sah schon, daß es ein Pferd werden würde, ein Schaukelpferd für ganz kleine Reiterlein. Gerade war er dabei, den Kopf zu schnitzen.

      Wer viel mit Tieren umgeht, weiß, daß auch Tiere Gesichter haben. Wie etwa eine Mutterstute, die gerade gefohlt


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