Outsider. Jonathan Wilson
Читать онлайн книгу.Rat. Als ich nach zehn Jahren Spanien zurückkehrte, musste ich die nächste Herausforderung meistern. Ich musste wieder Russisch lernen, weil ich zehn Jahre lang nur Spanisch gesprochen hatte. Ich musste immer ein bisschen überlegen, was ich eigentlich sagen wollte. Ich habe auch Zeit gebraucht, bis ich mich an die neue Wirklichkeit in diesem Land gewöhnt hatte. Ich bin aus einem Land fortgegangen und in ein ganz anderes zurückgekommen, politisch gesehen. Also musste ich noch einmal von vorne anfangen.“
Dassajew scheint gemischte Gefühle zu haben, was das alte System angeht. Er weiß, dass sich sein Leben als Spitzenfußballer stark von dem vieler Landsleute unterschied. „Ich spreche nicht nur für mich, sondern auch für viele andere große Sportler, die die Sowjetunion repräsentierten“, sagte er. „Es gab zwar so etwas wie Druck, aber der war nicht so schlimm oder stark, dass man darunter zu leiden hatte. Dass die UdSSR ein abgeschottetes Land war, galt für uns Fußballspieler ja nicht wirklich, weil wir oft auf Reisen waren. Wir haben in einer anderen UdSSR als unsere Mitmenschen gelebt. Die einzige Einschränkung war, dass wir das Land nicht verlassen konnten, um bei anderen Vereinen zu spielen. Das war verboten. Vergessen Sie nicht, dass wir in der UdSSR groß geworden sind und dass wir Teil dieser Gesellschaft waren.“
Und weiter: „Wir waren ein bedeutender Bestandteil des sowjetischen Lebens. Man fragt mich oft, wann es denn besser war, zu sowjetischen Zeiten oder heute. Was den Fußball angeht, stimmt es schon, dass wir nicht so hohe Gehälter bekamen, wie man sie den Spielern heute zahlt. Aber was wir Sportler zu der Zeit an Geld bekommen haben, war mehr als genug, um das Leben zu genießen. Man hatte keine Probleme, eine Wohnung oder ein Auto zu kaufen. Außerdem waren die Preise so niedrig, da reichte das Geld, das wir bekamen, um einen hohen Lebensstandard zu garantieren. Heute kriegen die Jungs zwar viel Geld, aber sie müssen auch viel Geld ausgeben.“ Und vielleicht änderte sich auch die Einstellung gegenüber Torhütern: In der neuen Gesellschaft suchte man nun den Ruhm und die Ehre, die Tore mit sich brachten, und weniger die mit viel Selbstaufopferung einhergehende Unabhängigkeit des Torhüters. Nachdem er eine Zeit lang als Co-Trainer der russischen Nationalmannschaft gearbeitet hatte, begann Dassajew, eine Trainerakademie im Luschniki zu führen.
Der nächste Mann, der als Nachfolger Jaschins galt, war Michail Jeremin. 1986 gab er mit 18 Jahren sein Debüt bei ZSKA Moskau, war Schlüsselspieler der UdSSR beim Gewinn der U21-Europameisterschaft 1990 und wurde noch im gleichen Jahr für ein Freundschaftsspiel der A-Nationalmannschaft gegen Rumänien nominiert. 1991 gehörte er dem ZSKA-Team an, das nach einem Sieg gegen Torpedo Moskau den sowjetischen Pokal gewann und später auch die letzte sowjetische Meisterschaft holte. Doch auf der Heimfahrt vom Finale platzte Jeremin ein Reifen an seinem Auto, und er stieß mit einem Bus zusammen. Eine Woche später erlag er seinen Verletzungen.
Daraufhin wurde Sergei Owtschinnikow als „neuer Jaschin“ gehandelt, auch wenn er sich durch sein forsches Auftreten und seinen Pferdeschwanz im Stile des englischen Torhüters David Seaman deutlich von seinem berühmten Vorgänger unterschied. Owtschinnikows Talent wurde schon zu Schulzeiten rasch deutlich. Damals erwarb er sich auch den Spitznamen „Boss“. Bald holte man ihn in die Jugendabteilung von Dynamo Moskau – des Klubs also, in dem sich bereits Jaschin einen Namen gemacht hatte. 1991 wechselte Owtschinnikow zu Lokomotive Moskau und von dort nach sechs weiteren Jahren nach Portugal. Hier spielte er bei Benfica, Alverca und dem FC Porto, bis er 2002 zu Loko zurückkehrte. Oft tun sich russische Spieler im Ausland schwer, doch Owtschinnikow lernte offensichtlich eine Menge in Portugal. Als er Russland verließ, war er zwar brillant, aber nicht konstant; als er zurückkehrte, war er brillant und konstant. Er spielte 20 Spiele zu null – ein neuer russischer Rekord –, als Lokomotive erstmals in der Vereinsgeschichte die Meisterschaft holte. „Die Situation bei Loko mit Owtschinnikow war damals die gleiche wie bei Dynamo mit Jaschin“, sagte Lokos damaliger Stürmer Walentin Bubukin.
Nur Owtschinnikows Temperament war ein anderes. Jaschin war zwar auch hitzig, lernte aber, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Das schaffte Owtschinnikow nie. „Der Keeper sollte aggressiv sein“, sagte er. „Er sollte schreien, das Kommando übernehmen, für seine Mitspieler kämpfen. Das wird Teil seines Images. Man macht das mit Absicht, um Druck auf die Schiedsrichter aufzubauen und den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Glauben Sie bloß nicht, dass ich auch im Alltag so bin.“ Manchmal übertrieb er es allerdings mit seiner Aggressivität. 2003 wurde er für fünf Spiele gesperrt, nachdem er einem Trainer von Zenit St. Petersburg hinterhergejagt war, der aus seiner Sicht Loko beleidigt hatte. „Am meisten regt mich an anderen Leuten auf, wenn sie sich Loko gegenüber respektlos zeigen“, sagt er. „Wenn sie Schlechtes über meinen Verein sagen, ist das das Gleiche wie eine persönliche Beleidigung.“
Nachdem Owtschinnikow bei einem Freundschaftsspiel gegen Deutschland nur Ersatz gewesen war, hieß es im Jahr 2000, er habe geschworen, nie wieder für die Nationalmannschaft anzutreten. Doch tatsächlich kehrte er vor allem deshalb aus Portugal nach Russland zurück, um sich in den WM-Kader zu spielen. Nach seiner Rückkehr gesellten sich zu den beiden Auszeichnungen als Russlands Torhüter des Jahres, die er bereits bei seinem ersten Engagement für Loko gewonnen hatte, noch zwei weitere. Eine Rote Karte wegen Handspiels außerhalb des Strafraums bedeutete allerdings faktisch das Ende seiner Nationalmannschaftskarriere. Insgesamt brachte er es auf nur 35 Länderspiele. Daher beschleicht einen das Gefühl, dass er dem ganzen Hype trotz seines Talents nie ganz gerecht wurde. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit war Owtschinnikow interessanterweise auch einmal Berater für einen ukrainischen Film über das Todesspiel und trainierte den Schauspieler, der Trussewitsch spielte.
Nach Jeremin und Owtschinnikow kam Igor Akinfejew. Er wurde 1986 in Widnoje geboren, direkt vor den Toren Moskaus. Sein Vater war Kraftfahrer und seine Mutter Lehrerin in einer Schwesternschule. Sein Großvater hatte bereits als Torwart in der zweiten sowjetischen Liga gespielt. „Er kannte einen Trainer aus der Jugendabteilung von ZSKA, und deswegen haben die mich da reingebracht, als ich vier Jahre alt war“, sagte Akinfejew. „Ich glaube, niemand liebt ZSKA mehr als ich.“
Akinfejew war 16, als er sein Debüt bei ZSKA gab und beim 2:0-Sieg über Krylja Sowetow Samara einen Strafstoß hielt. „[Wenjamin] Mandrikin verletzte sich“, erinnerte er sich. „Ich war sehr nervös und hatte Angst, wie die anderen Spieler mich wohl empfangen würden. Ich habe mich im Trainingslager in ein Zimmer eingeschlossen und habe mit niemandem geredet. Am Abend hatten wir allerdings eine Trainingseinheit, also musste ich rauskommen. Aber die Jungs haben mich freundlich begrüßt, und nach dem ersten Spiel habe ich eine Ladung Bier mit in die Sauna genommen, um zu feiern.“
Eigentlich ist er ja nicht von der ängstlichen Sorte, wie auch ZSKAs Torwarttrainer Wjatscheslaw Tschanow bestätigt, ein ehemaliger Torhüter, den Akinfejew einmal als „Trainer fürs Leben“ bezeichnete. „Er hat Mut“, sagte Tschanow. „Er wird nicht nervös. Seine größte Stärke ist sein Selbstvertrauen, was sich auf seine Mitspieler überträgt. Er macht nur sehr selten mal einen Stellungsfehler.“ Akinfejew brachte es in der Saison 2003 noch auf 13 Ligaeinsätze, und ZSKA holte die erste Meisterschaft seit dem Ende der UdSSR. Im Jahr darauf wurde er Stammtorhüter bei ZSKA und zum russischen Torhüter des Jahres gewählt. Wiederum eine Saison später gewann ZSKA als erste russische Mannschaft einen europäischen Titel. Im UEFA-Pokal-Finale schlug man Sporting in deren eigenem Stadion in Lissabon.
Auch Akinfejew hat ein feuriges Temperament. So wurde er beispielsweise fünf Spiele gesperrt, weil er Ognjen Koroman, den serbischen Mittelfeldspieler von Krylja Sowetow, geschlagen hatte. Der hatte, offenbar ohne böse Absicht, beim Torjubel mit dem Ball auf ihn geschossen. Doch inzwischen ist Akinfejew zu einer freundlichen, reflektierten, fast schon melancholischen Persönlichkeit gereift. 2005 hatte er noch über einen Wechsel ins Ausland nachgedacht, wenn auch ohne große Begeisterung. Schließlich ist er Russe, und es gibt vielleicht keine andere Nation, die sich ihrer Heimat derart verbunden fühlt. „Von seinem eigenen Volk verlangt Russland die hilflose Verehrung des Dazugehörens“, stellt Colin Thubron in Unter Russen fest. „Es umschließt sie mit dem elementaren Despotismus einer Erdmutter, und das Volk empfindet für sie die zerquälte Zärtlichkeit eines Bittenden.“
Bei Akinfejew wird diese Bindung durch seinen orthodoxen Glauben noch verstärkt. „Wenn ich Zeit habe“, sagte er bei meinem ersten Interview mit ihm im Jahr 2006, „dann versuche ich, in die Kirche zu gehen. Ich zünde einfach nur eine