Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

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Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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unternimmt es den Versuch, zu erklären, wie wir dorthin kamen, wo wir heute stehen. So gesehen steht es in einer Reihe mit Soccer Nemesis und Soccer Revolution. Es geht jedoch von einer vollkommen anderen Gegenwart aus, in der England zwar nicht ganz oben mitspielt, keinesfalls aber im Niedergang begriffen ist. Daher ist dieses Buch ein Geschichtsbuch und keine Polemik.

      KAPITEL 1

       Von den Anfängen bis zur Schottischen Furche

      Am Anfang war das Chaos, und der Fußball war wüst und leer … Dann kam das viktorianische Zeitalter, in dem Regeln aufgestellt wurden, und danach die Theoretiker, die das Spiel analysierten. Es sollte bis in die 1920er Jahre hinein dauern, bis man über eine Fußballtaktik im heutigen Sinn sprach. Allerdings wusste man schon in den 1870er Jahren, also deutlich früher, dass die Anordnung der Spieler auf dem Platz erheblichen Einfluss darauf hatte, wie das Spiel geführt wurde. In seiner frühesten Form jedoch kannte der Fußball solche Feinheiten noch nicht.

      Zahlreiche Kulturen kennen in ihrer Geschichte Spiele, in denen man gegen einen Ball trat. Doch trotz aller Ansprüche, die das alte Rom, Griechenland, Ägypten, die Karibik, Mexiko, China oder Japan auch erheben mögen – der moderne Fußballsport hat seine Wurzeln in einem Wettstreit zweier Pöbelhaufen im mittelalterlichen Großbritannien. Die Regeln, wenn es denn überhaupt welche gab, waren von Ort zu Ort verschieden. Immer aber ging es bei dem Spiel vom Prinzip her um zwei Mannschaften, die ein mehr oder weniger kugelförmiges Objekt zu einem Ziel am jeweils gegenüberliegenden Ende eines imaginären Spielfeldes durchkämpfen mussten. Das Spiel war gewalttätig, regellos, anarchisch und wurde wiederholt verboten. Schließlich setzte sich in den britischen Privatschulen – den Public Schools – im frühen 19. Jahrhundert die Ansicht durch, dass der Sport zur moralischen Erbauung der Schüler beitragen könnte. Erst jetzt entwickelte sich ein Spiel, das unserem heutigen Fußball vergleichbar ist. Bevor jedoch Taktiken entstehen konnten, mussten zunächst einmal in sich schlüssige Regeln geschaffen werden.

      Selbst als am Ende des 19. Jahrhunderts die ersten taktischen Systeme aufkamen, schenkte man ihnen nur in den seltensten Fällen besondere Beachtung. In den Kinderjahren des Fußballs hätte man sich nicht vorstellen können, dass Taktik einmal an einer Tafel mit Kreuzen und Pfeilen theoretisch erörtert würde. Dennoch lohnt es sich, einen Blick auf die Entwicklung des Fußballs in diesem frühen Stadium zu werfen, rührt doch aus dieser Zeit die britische Auffassung her, wie Fußball gespielt werden sollte – und in den 40 Jahren nach der erstmaligen Niederschrift der Regeln gab es nichts anderes als eine britische Auffassung.

      Fußball erlebte einen Boom zu Beginn des viktorianischen Zeitalters. Auslöser dafür war, so David Winner in Those Feet, die damalige Ansicht, dass das Empire sich im Niedergang befinde und dafür die moralische Verkommenheit verantwortlich sei. Mannschaftssportarten sollten gefördert werden, um einer um sich greifenden Ichbezogenheit entgegenzuwirken, die wiederum die Onanie beförderte, der ein überaus schädlicher Einfluss nachgesagt wurde. So behauptete Rektor Reverend Edward Thring von der Uppingham School in einer Predigt, dass sie zum „frühzeitigen und ehrlosen Ableben“ führe. Fußball wurde als das perfekte Gegenmittel betrachtet, denn schließlich gebe es, wie E.A.C. Thompson 1901 in The Boys’ Champion Story Paper schrieb, „keinen männlicheren Sport als Fußball. Er ist typisch britisch, weil er Schneid, Kaltschnäuzigkeit und Ausdauer erfordert.“ Es mag Zufall sein, dass Fußball zunächst als Stütze des British Empire eingesetzt wurde und Großbritanniens späterer Niedergang als Kolonialmacht mit dem Verlust der fußballerischen Überlegenheit einherging.

      Fußball erfreute sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch wachsender Beliebtheit. In jenen frühen Tagen unterschieden sich die Regeln indessen von Schule zu Schule, in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen vor Ort. In Cheltenham und Rugby beispielsweise, wo es weite und offene Rasenflächen gab, erinnerte Fußball noch stark an das Spiel der Pöbelhaufen. Dort konnten die Spielkameraden auf einen zu Boden gefallenen Spieler stürzen, ohne dass dieser verletzt wurde. Auf den harten Böden der Klosterschulen von Charterhouse und Westminster hätte ein solches Kampfgetümmel allerdings knochenbrechende Wirkung gehabt. Deshalb entwickelte sich dort das Dribbeln mit dem Fuß als Spielweise, und das Handspiel wurde verboten oder zumindest eingeschränkt, aber nach wie vor unterschied sich das Spiel radikal vom modernen Fußball. An taktische Formationen dachte man noch nicht einmal, zumal die Spieldauer und sogar die Anzahl der Spieler pro Mannschaft noch nirgends festgelegt worden waren. Zumeist stürmten die älteren Schüler mit dem Ball am Fuß voran. Gleichzeitig liefen die Mannschaftskameraden für den Fall, dass der Ball durch ein Tackling davonrollte, in einer Reihe dahinter, sie deckten sozusagen ab. Währenddessen versuchten die gegnerischen Spieler, sie aufzuhalten.

      

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       Wurzeln eines Weltspiels: Seit dem 13. Jahrhundert wurde in England der wilde Volksfußball gespielt.

      Ein Zusammenspiel zwischen den Stürmern gab es, wenn überhaupt, nur ansatzweise. Das Spiel drehte sich vor allem um das Dribbeln, während Passspiel, Zusammenspiel und Verteidigen als mehr oder weniger minderwertig angesehen wurden. Man rannte lieber stur an, als nachzudenken. Gewiss würden manche sagen, dass darin die englische Mentalität im Allgemeinen zum Ausdruck kam. So war das Denken in den Privatschulen ohnehin eher verpönt. Noch 1946 berichtete der ungarische Humorist George Mikes, wie stolz er kurz nach seiner Ankunft in Großbritannien gewesen sei, als ihn eine Frau „clever“, also „gescheit“ genannt hatte. Erst später fand er heraus, welch negative Konnotationen das Wort besaß.

      Die unterschiedlichen Regelwerke verhinderten zunächst alle Versuche, Fußball an den Universitäten einzuführen. 1848 berief H.C. Malden aus Godalming in der Grafschaft Surrey schließlich eine Versammlung in Cambridge ein, zu der Vertreter der Public Schools von Harrow, Eton, Rugby, Winchester und Shrewsbury erschienen – und bemerkenswerterweise auch zwei Schuljungen, die nicht von Privatschulen stammten. Bei diesem Treffen wurden die ersten einheitlichen Spielregeln festgehalten. „Die neuen Regeln wurden als die ‚Regeln von Cambridge‘ gedruckt“, schrieb Malden. „Ausfertigungen davon wurden verteilt und im Parker’s Piece [einer offenen Wiese im Herzen der Stadt] aufgehängt, und es war befriedigend zu sehen, dass sie ihren Dienst taten, denn sie wurden brav eingehalten, und ich hörte niemals, dass ein Mann von einer Privatschule das Spiel aufgab, weil er die Regeln nicht leiden mochte.“

      1862 machte diese südliche Variante des Spiels einen weiteren Schritt in Richtung Vereinheitlichung. J.C. Thring, den jüngeren Bruder des bereits erwähnten Rektors von Uppingham Edward Thring, hatte man in Cambridge zwar zunächst daran gehindert, ein einheitliches Regelwerk aufzuzeichnen. Nun aber veröffentlichte er eine Sammlung von zehn Vorschriften mit dem Titel „Das einfachste Spiel“. Im darauffolgenden Oktober erschien eine weitere Variante, die sich „Fußballregeln der Universität von Cambridge“ nannte. Entscheidend aber war die Gründung der Football Association (FA), des englischen Fußballverbandes, Ende 1863. Die FA setzte sofort alles daran, eine endgültige Regelsammlung für das Spiel festzulegen.

      Zunächst wollte man die besten Elemente des Dribbelns und des Handspiels kombinieren. Doch dazu kam es nicht. Nach einer langen und hitzigen Debatte verbot man schließlich nach einer fünften Versammlung in der Freemason’s Tavern auf den Lincoln’s Inn Fields zu London das Fortbewegen des Balls mit den Händen. Von da an gingen Fußball und Rugby getrennte Wege. Der eigentliche Streit drehte sich erstaunlicherweise aber gar nicht um das Spiel mit der Hand, sondern um das sogenannte Hacking. Im Klartext: ob es erlaubt werden sollte, gegnerischen Spielern vors Schienbein zu treten. F.W. Campbell aus Blackheath sprach sich ausdrücklich dafür aus. „Wenn man das [Hacking] abschafft“, so sagte er, „nimmt man dem Spiel auch sämtlichen Mut und Schneid. Ich werde dann nicht umhinkommen, einen Haufen Franzosen herüberzuholen, die euch nach einer Woche Training schlagen könnten.“ Sport, so war er anscheinend der Meinung, lebte vor allem von Schmerzen, Brutalität und Männlichkeit, denn ohne diese Faktoren käme es am Ende ja nur auf Geschick an, und jeder dahergelaufene Ausländer könnte gewinnen. Dass ernsthaft so debattiert wurde, ist bezeichnend für die landläufige Gesinnung – auch wenn Blackheath


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