In Ungnade - Band I. Nataly von Eschstruth

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In Ungnade - Band I - Nataly von Eschstruth


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die Arme um ihn und bat ihn um Vergebung.

      Wie hätte Aurel diesen glückseligen Kinderaugen widerstehen können? Er zog den Liebling in die Arme und sagte leise: „Ich habe dich lieb, Ortwin! Ich möchte dich beschützen, denn meine Augen sind hell und sehen die Zukunft. Die aber kann nicht glücklich sein, solange du ein Weiberknecht bist. Gebe Gott, dass du dereinst unter all den giftgen Blumen die dornenlose Rose finden mögest — solange ich bei dir bin, soll dir keine Belladonna die Augen blenden!“

      Ja, hätte er ihn immer bei sich behalten können, das Unglück wäre nie geschehen! — Ortwin war reich, sein Vormund, der General, hatte ihn für die Kavallerie bestimmt, aber die Brüder hingen in so viel Liebe und unverbrüchlicher Treue aneinander, dass der junge Dahlen voll hartnäckiger Konsequenz darauf bestand, um Aurels willen auch Infanterist werden und in seinem Regiment eintreten zu wollen. Wer aber vermag gegen den eisernen Schritt der Militaria anzukämpfen? Er zermalmt unbarmherzig die Pflänzlein Wunsch und Hoffnung und reisst auseinander, was doch mit Herz und Seele verwachsen ist.

      Ortwin ward zwar Infanterist, aber den Bemühungen des Onkels war es gelungen, den jungen Mann in einem Regiment der Residenz anzubringen, und Aurel presste die geballten Hände gegen die Stirn und fluchte der Grausamkeit des Schicksals. Er war von Natur ein leidenschaftlich aufbrausender Charakter, und der düstere Ernst seines Wesens war nur das Resultat seiner unnatürlichen Erziehung.

      Nun musste er seinen Liebling, seinen Sonnenschein, dahingeben, musste das blutjunge Bürschchen, vor dem die Welt noch wie ein grosses, unverstandenes Wunder in eitel Licht und Rosenglanz lag, allein hinausschicken in ein Leben voll Versuchung und Gefahr! Er hatte nur für diesen Bruder gelebt und existiert — seine Liebe für Ortwin war der gute Engel gewesen, welcher manchen Dämon der Leidenschaft in ihm gebändigt und niedergehalten hatte; nun riss der Wille des militärischen Gesetzes dieses einzig auf der Welt ihm nahe stehende Wesen unter seinen schirmenden Händen fort. Er musste sich fügen, aber er that es voll Groll und Bitterkeit.

      Ortwins Briefe waren die Lichtblicke in seinem öden, vereinsamten Dasein — sie kamen sehr häufig und waren voll überströmender Liebe und Zärtlichkeit, voll Jubel und Entzücken über Welt und Leben, welches sich ihm, dem Fähnrich, bereits in liebenswürdigstem Glanze zeigte. Durch Konnexionen war der junge Mensch, noch ehe er die Epaulettes trug, in die Geselligkeit der Residenz eingeführt, und er schrieb voll wahrhaft kindlicher Begeisterung über jedes einzelne Fest, über die Menüs, die anwesenden, interessanten Persönlichkeiten, über Theater und Konzerte — über irgend eine Dame nie. Er hatte seit jener einen heftigen Scene über den Ahnherrn Kunibert niemals wieder ein Thema berührt, welches das Gespräch auf die Frauensrage hinüberspielen konnte.

      So war die Zeit dahingegangen, die Brüder benutzten jeden Urlaub, sich wiederzusehen, und weil es Aurel wünschte, kam der Jüngere zu ihm; die Residenz und ihr flottes Leben war dem wunderlichen Grillenfänger Heusch von Buchfeld verhasst. Nie fiel ein Wort, welches ihn um des jungen Bruders Glück besorgt machen konnte, bis plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die entsetzliche Nachricht kam, welche ihn an die Bahre des Lieblings rief. Da war alles aus, da lag alles Lebensglück zertrümmert.

      Der bleiche Träumer sprang empor und presste mit flackerndem Blick die eiskalten Hände gegen die Schläfen. Was sollte er nun noch auf der Welt? Was kettete ihn noch an ein Leben, das jeglichen Wert und jeden Reiz, für ihn verloren? Ein Leben, welches ihn stiefmütterlich und grausam vernachlässigt hatte, solange er denken konnte. Wie das Blut ihm wirbelnd in die Schläfen schiesst! Es kreist und wallt blutrot vor seinen Augen — nur eines fasst sein stierer Blick, nur eines sieht er noch, und das lockt und zieht ihn wie mit teuflischen Gewalten. — Der Revolver liegt vor ihm, welcher Ortwins Leben geendet. Warum endet er nicht auch das des Bruders? Es ist überflüssig geworden, nutzlos und finster. Seine Finger fassen die Waffe und umkrampfen sie — all seine Sinne sind krank und wirr, sein guter Geist hat ihn verlassen, er hat nur noch einen Gedanken: ein Ende zu machen! Da schlägt seine Hand mit dem Revolver hart auf den Tisch zurück. Wie ein Irrsinniger schaut er auf den Bataillonsadjutanten, welcher vor ihm in der Thür steht.

      „Verzeihen Sie, Herr von Buchfeld, würden Sie momentan in der Lage sein, eine wichtige Unterredung zu gewähren?“

      „Ihnen?“

      „Nein — eine Dame wartet in meinem Zimmer; ich teile Ihnen zuvor das Nähere mit.“

      III.

      „O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich,

      Ein zu verschlungener Knoten ist’s für mich!“

      König Heinrich II. V Aufz. I. Sz. Shakespeare.

      Eine Dame?!“

      Wie von einem Schlage getroffen, zuckte Aurel aus seiner Regungslosigkeit empor. „Eine Dame?“ fragte er leise, und er trat dem Sprecher einen Schritt näher und sah ihn dabei mit den unheimlich aufglühendem Blick und so grell blinkenden Zähnen an, dass der Adjutant ganz betroffen einen Schritt zurück wich.

      „Allerdings ...“ stotterte er, „aber ich bitte Sie von vornherein, sehr verehrter Herr von Buchfeld, keine falschen Schlüsse zu ziehen! Die Legationsrätin, Gräfin Judith Vare, erwartet Sie in meinem Zimmer, Ihnen in jeder Weise Hilfe und Unterstützung anzubieten und Ihnen als erste Dame der Gesellschaft ihr Beileid auszusprechen!“

      Buchfeld stützte sich schwer auf den eichenen Tisch, er sah erschreckend bleich aus. „Aus welchem Grunde? Stand mein Bruder der Gräfin und ihrer Familie näher wie andern Persönlichkeiten der Residenz?“

      „In gewisser Beziehung, ja! Die Gräfin hat sich stets voll wärmsten Interesses Ihres Herrn Bruders angenommen, und weil General von Dahlen, Ihr Herr Onkel, den jungen Mann ihrer besonderen Fürsorge empfohlen, so hat die ebenso einflussreiche wie tonangebende Frau ihn bereits als Fähnrich in die Gesellschaft eingeführt.“

      „Ah! — Gräfin Vare also! Ich habe es nie begreifen können, dass man Ortwin gegenüber eine so seltene Ausnahme machte, und glaubte, er habe es dem Onkel allein zu verdanken.“ Der Blick des Sprechers ruhte sekundenlang auf der Bahre, dann flüsterte er noch leiser denn zuvor, als wolle er den stillen Schläfer nicht durch diese Frage stören. „Wer ist Gräfin Vare? Ich bin völlig fremd in den hiesigen Hofkreisen und möchte etwas unterrichtet sein, ehe ich der Dame entgegentrete.“ Mit einem leichten Wink der Hand schritt er dem Kameraden voran in das Nebenzimmer und setzte den Schellenzug in Bewegung, den Burschen des Verewigten herbeizurufen. Es lag etwas ganz Absonderliches in seinem Wesen, etwas Raubtierartiges, Forschendes und Lauerndes, als gälte es ein Wild zu beschleichen.

      Der Adjutant schien eilig. „Gräfin Vare lebt als Witwe des ehemaligen holländischen Legationsrats gleichen Namens hierselbst, weil sie vor ihrer Verheiratung die Stelle einer Hofdame bei der hochseligen Grossherzogin bekleidete. Darf ich Sie wohl bitten mir zu folgen — ich möchte die Gnädigste nicht allzulange warten lassen —“

      Aurel regte sich nicht, er stand vor ihm, wie ein Bild von Stein. „Sie nannten die Gräfin einflussreich und tonangebend?“ fragte er mit klangloser Stimme, „ist sie jung — schön und reich?“

      „Letzteres wohl in hohem Masse, denn sie macht eines der ersten Häuser hier; ob schön? das ist Geschmacksache, man findet sie mehr geistreich und interessant, und jung? Mon Dieu, Verehrtester, das ist eine heikle Frage, eine Frau ist stets so alt, wie sie aussieht und Gräfin Vare ist eine Sphinx, deren Rätselaugen Jahr für Jahr unverändert in die Welt blicken! Ausserdem ist sie —“

      „Hat sie Kinder?“ fragte Buchfeld kurz und schroff dazwischen.

      „Nein; die würden auch in ihrem Hause nicht am Platze sein. Die Gräfin ist mehr Diplomat und Staatsmann als Weib. Man nennt sie die Vertraute und Ratgeberin des Grossherzogs, seine rechte Hand in allen, selbst den wichtigsten Angelegenheiten!“ Herr von Parlow trat vertraulich näher und fuhr eifrig fort: „Haben Sie denn nicht die Skandale in allen Zeitungen gelesen, welche in letzter Zeit den Namen der Gräfin so vielfach in Verbindung mit Königlicher Hoheit nannten? Nein?! Unfasslich! Alle Welt ist voll davon! Es erschienen in ausländischen Zeitungen unerhört indiskrete Artikel, welche die Verhältnisse unserer Residenz, militärische,


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