Exportismus. Andreas Nölke
Читать онлайн книгу.Vorwort
Deutschland ist abhängig von einer Droge. Diese Droge besteht aus einem extrem hohen Niveau von Exporten, viel höher als bei jeder anderen großen Ökonomie. Ohne dieses Exportniveau würde das Wirtschaftswachstum in Deutschland einbrechen, hohe Arbeitslosigkeit könnte die Folge sein. Wie bei anderen Drogen muss die Dosis immer weiter erhöht werden, damit der »Kick« noch wirkt, die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ist seit Jahrzehnten deutlich gestiegen.
In den nächsten Jahren wird es den deutschen Unternehmen allerdings schwerfallen, ihre Droge im ausreichenden Maße zu beschaffen. Die Corona-Krise trifft die deutschen Exportmärkte hart. Die Bundesregierung kann zwar die eigene Wirtschaft mit hohem Mittelaufwand stabilisieren, aber im europäischen Ausland, in den USA und in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern ist sie weitgehend machtlos. Unsere Wirtschaft wird daher weitaus härter getroffen, als angesichts der Haushalts-»Bazooka« zu erwarten ist, zumal die Exportwirtschaft schon in den Jahren vor der Corona-Krise in der Krise steckte (Kapitel 1).
Aber auch jenseits der Corona-Krise droht der deutschen Wirtschaft Entzug. In den vergangenen Jahrzehnten hat das einseitige Exportmodell zwar leidlich funktioniert, insbesondere angesichts des Booms der Exporte nach Südeuropa und nach China. Der Aufschwung in Südeuropa ist jedoch schon lange vorbei und China kann als Absatzmarkt schnell ausfallen, wenn sich der Systemkonflikt mit den USA intensiviert. Auch sonst sind die Aussichten für die deutschen Exporte nicht rosig, vom Brexit über die Spannungen mit Osteuropa und den USA bis hin zu den Auswirkungen des Klimawandels. Die Abhängigkeit von der Exportdroge stellt in Zukunft daher ein großes Risiko dar (Kapitel 2).
Drogenabhängigkeit ist nicht nur in Bezug auf die Beschaffung neuen »Stoffs« ein Problem. Sie ist auch sonst nicht gesund. Im Fall des extremen deutschen Exportmodells führt sie unter anderem zu einer mageren Lohnentwicklung, der Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme, dem Zwangsverzicht vieler Haushalte auf eine eigene Immobilie, einem Verfall der öffentlichen Infrastruktur, stark steigender Vermögensungleichheit und zu einer Deformierung des deutschen Finanzsektors (Kapitel 3).
Im Gegensatz zu anderen Suchtkrankheiten ist die deutsche Drogenabhängigkeit aber vergleichsweise leicht zu kurieren. Das Beispiel Chinas hat gezeigt, dass eine Ausbalancierung extremer Exportmodelle durch die Medizin einer höheren Binnennachfrage gut funktionieren kann. Notwendig sind einerseits Lohnerhöhungen in der Wirtschaft und andererseits verstärkte staatliche Investitionen, beispielsweise zur Verhinderung des Klimawandels. Damit die Exportwirtschaft die Nebenfolge eines drohenden Verlustes an preislicher Wettbewerbsfähigkeit leidlich verkraften kann, muss sie allerdings in Bezug auf Investitionen in neue Technologien deutlich mehr unterstützt werden (Kapitel 4).
Aufrechterhalten wird die Drogenabhängigkeit – trotz vieler schädlicher Nebenwirkungen und einer vergleichsweise leichten Therapie – durch die gefährliche Ideologie des Exportismus. Der Exportismus redet uns ein, dass die extreme Abhängigkeit von der Nachfrage aus dem Ausland in unser aller Interesse liegt, obwohl sie nur einem kleinen Teil von Dealern (den schwerreichen Clans der deutschen Familienunternehmer) wirklich nützt. Diese Ideologie hat sich in den letzten Jahrzehnten tief in unserer Gesellschaft verbreitet, gestützt auf Komponenten wie der Neigung zur Lohnmäßigung, der Angst vor Hyperinflation, der Verehrung der schwäbischen Hausfrau und dem Kult der (Währungs-)Unterbewertung. Aber die Chancen des Drogendezernats zur Bekämpfung dieser verhängnisvollen Sucht sind in letzter Zeit gestiegen. Die Dealer zeigen sich uneinig, die Junkies weniger fanatisch. Der Zeitpunkt für eine Hinwendung zur dauerhaften Abstinenz ist günstig (Kapitel 5).
Jetzt ist der Moment, um über eine dauerhafte Abwendung von der Droge der extremen Exportorientierung zu reden. Warum und wie, zeigt dieses Buch.
1 Warum Deutschlands Wirtschaft von der Corona-Krise so hart getroffen wurde
Deutschland ist im Frühjahr 2020 relativ glimpflich durch die gesundheitlichen Herausforderungen der ersten Corona-Welle gekommen, insbesondere im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern. Trotzdem ist die deutsche Wirtschaft von der Krise hart getroffen worden. Das liegt aber nicht daran, dass die Bundesregierung zu wenig Geld zur Stabilisierung ausgegeben hat – im Gegenteil, das deutsche Krisenpaket ist deutlich größer ausgefallen als in anderen europäischen Ländern.
Die im internationalen Vergleich besondere Ursache für den Einbruch der deutschen Wirtschaft während der Corona-Krise liegt in den Exporten. Die deutsche Wirtschaft ist extrem exportlastig, ihre Abhängigkeit vom Außenhandel ist wesentlich stärker als jene aller anderen großen Industrieländer. Da die meisten der wichtigsten Absatzländer für die deutschen Produkte in der Corona-Krise stärker eingebrochen sind als Deutschland, konnte das Rettungspaket die Wirtschaft nicht grundlegend stabilisieren, obwohl es stark auf die Unterstützung der Industrie ausgerichtet war.
Um die extreme Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft zu verstehen, bietet sich besonders die Differenzierung verschiedener nationaler Wachstumsmodelle an. Aus dieser Perspektive hat sich die deutsche Ökonomie in den letzten Jahrzehnten zu einem Wirtschaftsmodell entwickelt, in dem Wachstum weit überproportional von Exporten abhängt.
Auch politisch dominiert in Deutschland eine breite soziale Koalition, die sehr stark auf das Exportmodell ausgerichtet ist. Dementsprechend war das Rettungspaket auch besonders darauf ausgerichtet, die Industrie zu unterstützen. Die politisch schwächer organisierten Verlierer der Corona-Stabilisierungsmaßnahmen finden sich vor allem in den Binnensektoren, von den kleinen Selbständigen über eine Vielzahl von Dienstleistern bis hin zu den Kulturschaffenden.
Auch unabhängig von diesen sehr problematischen Verteilungswirkungen in der Corona-Krise stellt sich die Frage nach der Zukunft des deutschen Export-Wirtschaftsmodells. Bereits vor Ausbruch der Pandemie befand es sich in der Krise. Durch die Schwächung unserer Exportmärkte wird sich diese Krise vertiefen. Es steht daher zu befürchten, dass die extreme Exportlastigkeit sich in Zukunft noch mehr als Achillesferse der deutschen Wirtschaft herausstellen wird. Das gilt umso mehr, als Deutschland auf Wirtschaftskrisen und wachsende Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit regelmäßig mit einer noch weiteren Intensivierung des Exportmodells reagiert hat, insbesondere durch Lohnmäßigung und Kostensenkung (Kapitel 5).
Auch nach Überwindung der Corona-Krise ist mit einer Intensivierung des Exportmodells zu rechnen, insbesondere über eine schnelle Reduktion der stark gewachsenen staatlichen Defizite durch Austerität (begrenzte öffentliche Ausgaben) sowie über den Verzicht auf Lohnerhöhungen. Gesamtmetall hat im Oktober 2020 schon einmal mitgeteilt, dass höhere Löhne weder dieses noch nächstes Jahr realistisch und stattdessen Mehrarbeit ohne vollen Lohnausgleich geboten seien.
Da Austerität und Lohnverzicht in der Zukunft aber genau der falsche Weg wären, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um eine grundlegende Debatte über die Ausrichtung des deutschen Wirtschaftsmodells zu führen.
Deutschlands Gesundheitssystem in der Corona-Krise
Aber fangen wir in der Gegenwart an: Ein Vergleich zwischen der gesundheitlichen und der ökonomischen Auswirkung der Corona-Krise verdeutlicht exemplarisch, wie stark die Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft für deren aktuelle Krise verantwortlich ist.
Die Exportlastigkeit ist kein neues Phänomen und sie ist auch nicht nur im Kontext der Corona-Krise ein gravierendes Problem, sondern seit einigen Jahrzehnten. Aber die Entwicklung während der Corona-Krise zeigt die Probleme der deutschen Wirtschaft besonders anschaulich und aktuell.
Im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern waren die gesundheitlichen Folgen der Corona-Krise – während deren ersten Welle (Frühjahr 2020) – in Deutschland relativ milde. Die Anzahl der Infizierten in Relation zur Bevölkerung war im europäischen Vergleich gering. Noch geringer fielen die Todeszahlen in Relation zur Bevölkerung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aus. Deutschland ist nach diesen Indikatoren in der ersten Welle weitaus weniger von der Krise getroffen worden als beispielsweise Belgien, Großbritannien, Spanien, Italien, Schweden, Frankreich oder die Niederlande,