Drei fahren in den Sommer. Lise Gast

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Drei fahren in den Sommer - Lise Gast


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es sich noch feststellen. Es war am Mittwoch, sagte Frau Meinhold — sie wußte es übrigens schon vorher, nicht erst aus der Zeitung.“

      „Am Mittwoch?“ Ich hatte mich hingesetzt und versuchte zu überlegen. „Da haben sie nachmittags keine Schule.“ Weiter fiel mir nichts ein.

      Mutters Augen waren flehend. „Überleg doch — können sie nicht — waren sie nicht schwimmen? Sie gehen doch mittwochs immer —“

      „Ich weiß nicht. Wir müssen sie fragen. Vielleicht haben sie sich mit Kameraden aus ihrer Klasse getroffen, die das noch wissen.“ Mutter schwieg. „Wem gehört eigentlich die Hütte?“ fragte ich dann.

      „Dem alten Grulich, dem Uhrmacher. Er hat am Markt seine Werkstatt. Vater kennt ihn gut. Na ja, Vater kennt ja alle in der Stadt.“

      Vater ist Angestellter bei der Kreissparkasse. Er hat schon immer Direktor werden wollen. Und weil er ziemlich fest damit rechnete, hat er das Haus gebaut, obwohl wir wahrhaftig nicht viel Geld haben. Er dachte, als Direktor kann er es leichter abbezahlen. Aber vorläufig ist er das noch nicht.

      Als junger Mensch wollte Vater Jura studieren. Deshalb haben wir auch das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch im Haus, und er liest mit Vorliebe darin, wie andere Leute im Zitatenschatz. Aber in jenen Zeiten, die seiner Meinung nach so golden gewesen sind, konnten offenbar nur die Söhne wohlhabender Leute studieren — das ist heute besser. Heute kann jeder studieren, der in der Schule ordentlich und fleißig war und es im Studium auch ist. Auch Bundeskanzler kann jeder werden, wenn es ihm dazu reicht. Man trägt heute sozusagen den Marschallstab im Tornister. Das ist gut. Allerdings — Sparkassendirektor zu werden ist vielleicht noch schwieriger, als Bundeskanzler zu werden. Wenigstens denke ich das manchmal, wenn ich Vaters Bemühungen sehe.

      Ich bremste diese Gedanken gewaltsam ab. „Dem alten Grulich gehört die Hütte? Dann ist die Sache aber gemein.“

      Denn der alte Grulich ist der friedlichste Mensch unter der Sonne. Groß, grau, hager — und sehr liebenswürdig, jedenfalls zu mir. Ich brauche nur hereinzukommen, da zieht sich sein schmales Gesicht in unzählige freundliche Falten zusammen, und er strahlt mich an. Was das gnädige Fräulein denn wünsche? Bitte, nehmen Sie doch Platz! Er siezt mich seit dem Tag meiner Konfirmation, während andere immer weiter Du sagen und vertraulich tun. Solche Vertraulichkeit kann ich schlecht vertragen.

      „Das ist wirklich eine Gemeinheit“, sagte ich und sah Mutter an. Ich mußte ja so tun, als wüßte ich überhaupt nichts. „Wer das war, der sollte sich schämen. Diesen Mann zu kränken...“

      Er hat keine Familie mehr, ich weiß das. Er hat unzählige Vögel; überall in seiner Werkstatt pfeift und zwitschert es. Sonst haben meist Schuster Vogelkäfige in der Werkstatt hängen, aber bei uns hat sie Herr Grulich. Und er kennt alle Vögel und pfeift ihnen vor, oder er pfeift das, was sie zwitschern, so bezaubernd gut nach, daß es ist, als unterhielte er sich mit ihnen. Überall wird er der Vogelgrulich genannt. „Draußen bei der Hütte hatte er auch ein schönes Vogelbad aus Ton“, erzählte Mutter bedrückt. „Er ist doch solch ein Tierfreund. Das haben sie auch kaputtgemacht, zertreten und zerschlagen...“

      Na wartet, dachte ich. Laut aber sagte ich:

      „Sowas ist doch nicht zu glauben. Was für Rolilinge müssen das sein! Die sind bestimmt nicht von hier.“ Sah Mutter mißtrauisch aus? Oder bildete ich mir das nur ein? Ich durfte nicht noch etwas sagen, was in diese Richtung wies. Überhaupt — es war besser, ich lenkte Mutter ab.

      „Ich freue mich so auf unser Ferienlager“, sagte ich also. „Du wirst sehen, ich komme mit perfektem Französisch wieder. Übrigens — die Frau von Elias geht auch mit. Inge sagt, sie sei ganz reizend.“

      Mutter tat, als höre sie zu, schaltete den Drucktopf ab und stellte ihn unter den Wasserhahn. Dann aber ließ sie plötzlich die Hände sinken, setzte sich auf einen Hocker und verbarg vornübergebeugt das Gesicht in den gekreuzten Armen. Ihre Schultern zuckten.

      „Aber Mutter — aber — was hast du denn?“ fragte ich, zutiefst erschrocken. Mutter weinte, man hörte es, obwohl sie es zu unterdrücken versuchte. Ich faßte sie um die Schultern. Sie hob das Gesicht nicht.

      „Ich hab’ Angst — ich hab’ so Angst“, schluchzte sie. „Angst, daß sie es waren, daß sie dabei waren. Frau Meinhold hat mich auch so angesehen... Silke, wenn sie dabei waren. Wenn Vater das erfährt...“

      Ich habe Mutter noch nie so verzweifelt erlebt. Damals, bei Vaters Zusammenbruch, hat sie sich großartig benommen, gefaßt und vernünftig und alles. Aber jetzt... Wenn nur Vater nicht kam und sie so sah. Dann würde er sich wohl sein Teil denken!

      „Mutter, du mußt doch — wenn Vater jetzt kommt!“ flüsterte ich beschwörend.

      Aber Mutter hob den Kopf nicht. „Und wenn sie es diesmal wirklich nicht waren, wer weiß, nächstes Mal —“ Sie weinte jetzt richtig, stoßweise, außer sich.

      „Mutter, du mußt dich jetzt zusammennehmen!“ hörte ich mich rufen, halblaut, aber fast wild. „Du machst ja alles kaputt. Vater darf nie auf den Gedanken kommen —“

      „Ich kann nicht. Ich hab’ solche Angst —“

      Schließlich bekam ich sie dazu, aufzustehen. Ich schob sie aus der Küche, zerrte sie die Treppe hinauf und drückte sie auf ihr Bett. Ich zog ihr die Halbschuhe von den Füßen, legte ihr die Beine hoch und deckte sie zu.

      „Du bleibst jetzt liegen. Vater darf dich so nicht sehen. Ich sage ihm und den Jungen, dir wäre schlecht geworden. Du hättest brechen müssen. Ja, es ist doch gleichgültig, ich stelle einen Eimer her. Du bleibst liegen. Hast du was Beruhigendes da? Warte, ich seh’ mal im Arzneischränkchen nach.“

      „Nicht — nicht — ich will nicht“, wehrte sich Mutter. Doch ich fand ein Fläschchen, auf dem zu lesen war: Zehn Tropfen auf ein Stück Zucker, zur Beruhigung, in ernsten Fällen das Doppelte. Ich lief nochmal in die Küche und holte die Dose mit Würfelzucker, tröpfelte, zählte, gab es Mutter ein.

      „So, warum denn nicht? Nun tief atmen und an gar nichts denken! Ich mach’ das Essen fertig. Was gibt’s denn? Nein, ich tue es, bleib ja liegen! Ist der Tisch gedeckt? Laß doch, das werde ich wohl können. Überhaupt, Mutter, ich finde, einmal könntest du auch tun, was ich sage.“

      Es klang wütend, ich hörte es selbst, und es tat mir leid. Merkwürdigerweise aber wurde Mutter nicht böse darüber, im Gegenteil. Sie war auf einmal lieb und ganz klein.

      „Ach, Silke, bitte, sei nicht böse! Es ist ja nur — bitte...“

      Mir war das entsetzlich, ich hatte sowas noch nie erlebt. Schließlich setzte ich mich für einen Augenblick auf die Bettkante und streichelte ihr geniert die Wange.Es war so ungewohnt und komisch: Mutter lag hilfsbedürftig da und ich redete groß und vernünftig. Machte ich das richtig? Ich wußte es nicht.

      Später rannte ich hinunter und deckte mit fliegenden Händen den Tisch. Ich goß die Kartoffeln ab und füllte das Gemüse in eine vorgewärmte Schüssel. Vater wird ärgerlich, wenn nicht alles ofenheiß auf den Tisch kommt. Da hörte ich schon seinen Schritt. Und die Jungen?

      Sie kamen nicht. Wir warteten erst — ich hatte Vater von Mutters Übelkeit erzählt und ihn gebeten, nicht hinaufzugehen, sie schlafe jetzt sicher —, dann aber setzten wir uns. Vater war sehr ärgerlich, weil die Jungen nicht kamen. Ich erzählte etwas von einer zusätzlichen Stunde, von der sie einmal gesprochen hätten — ob sie heute stattfände, wüßte ich nicht.

      „So etwas sagt man vorher“, knurrte Vater, begann dann aber zu essen. Ich tat zuerst nur so, dachte, ich könne keinen Bissen hinunterwürgen. Dann aber merkte ich auf einmal, daß es mir schmeckte, und ich aß und aß — mir wurde besser. Zuletzt haben wir uns dann sogar unterhalten, Vater und ich. Und es ging ganz gut.

      Als ich später nach Mutter sah, schlief sie wirklich. Ich stellte den Jungen das Essen warm und wusch unsere Teller ab. Vater hatte sich, wie immer um diese Zeit, für zehn Minuten hingelegt. Ich betete, daß die Jungen nicht gerade jetzt kommen möchten — sie kamen auch


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