Der Untertan. Roman. Heinrich Mann

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Der Untertan. Roman - Heinrich Mann


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mußt nicht denken, daß ich etwas von dir verlange. Ich hab dich geliebt, nun ist alles gleich.«

      Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Allianceplatz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor:

      »Natürlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenüber zu entziehen. Nur vorläufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muß erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben …«

      Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht:

      »Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.«

      Da sie in die Blücherstraße einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkehre. Sie sagte:

      »Weil uns jemand sehen könnte? Das würde gar nichts machen, denn ich muß zu Hause doch erzählen, daß ich dir begegnet bin und daß wir im Café zusammen gewartet haben, bis die Straßen wieder frei waren.«

      »Na, die kann lügen«, dachte Diederich. Sie setzte hinzu:

      »Für Sonntag bist du zu Mittag geladen, du mußt bestimmt kommen.«

      Diesmal war es ihm zuviel, er fuhr auf. »Ich soll –? Bei euch soll ich –?«

      Sie lächelte sanft und schlau. »Es geht doch nicht anders. [77]Wenn man uns einmal sähe –: willst du denn nicht, daß ich wiederkomme?«

      O ja, das wollte er. Trotzdem mußte sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrem Hause verabschiedete er sich mit einer formellen Verbeugung, kehrte rasch um und dachte: »So ein Weib ist scheußlich raffiniert. Lange tu ich da nicht mit.« Indes bemerkte er mit Unlust, daß es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wußte nicht, warum. Als er dann die Tür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich reckte er die Arme in die Höhe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen:

      »Agnes!«

      Er fühlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. »Ich bin ganz furchtbar glücklich«, dachte er, und: »So schön kommt es im ganzen Leben nicht wieder!« Er hatte die Gewißheit, daß er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen. Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich töricht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, daß er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. [78]Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte, – bis Agnes kam! »Agnes! Süße Agnes, du weißt ja gar nicht, wie ich dich lieb habe!« Aber sie sollte es wissen. Er fühlte, daß er es nie wieder so werde sagen können wie in dieser Stunde, und er schrieb einen Brief. Er schrieb, daß auch er diese drei Jahre immer auf sie gewartet habe, und daß er keine Hoffnung gehabt habe, weil sie zu schön für ihn sei, zu fein und zu gut; daß er sich das mit Mahlmann nur eingeredet habe aus Feigheit und aus Trotz; daß sie eine Heilige sei, und nun sie zu ihm herabgestiegen, liege er zu ihren Füßen. »Hebe mich auf, Agnes, ich kann stark sein, ich fühle es, und ich will dir mein ganzes Leben weihn!« – Er weinte, drückte das Gesicht in das Divankissen, worin er ihren Duft noch spürte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein.

      Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein großes Erlebnis fiel ihm ein, ein süßer Stoß ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, daß er sich peinliche Übertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schön, und es konnte einen auch wirklich aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem großartigen Mädel ein Verhältnis hatte. Wäre sie jetzt nur dagewesen, er hätte zärtlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Göppel ihn ab … Diederich verschloß den Brief im Schreibtisch. »An das Essen hab ich gestern überhaupt nicht gedacht!« Er ließ sich ein ausgiebiges Frühstück bringen. »Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht [79]verginge. Das ist doch Blödsinn. So darf man nicht sein.« Er zündete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium. Was er auf dem Herzen hatte, beschloß er statt in Worte – denn so hohe Worte waren unmännlich und unbequem – lieber in Musik auszuströmen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich plötzlich mit viel mehr Glück als in der Klavierstunde, an Schubert und Beethoven.

      Am Sonntag, wie er bei Göppels klingelte, machte Agnes selbst ihm auf. »Das Mädchen kann nicht vom Herd fort«, sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick. Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen.

      »Kennst du es nicht?« flüsterte Agnes. Er ward rot.

      »Das von Mahlmann?«

      »Das von dir! Ich trag es zum erstenmal.«

      Rasch und heiß drückte sie ihm die Hand, dann ging die Tür zum Berliner Zimmer auf. Herr Göppel wandte sich um. »Na, da ist wohl unser Ausreißer?« Aber kaum erblickte er Diederich, änderte sich seine Miene, er bereute seine Vertraulichkeit.

      »Ich hätte Sie, weiß Gott, nicht wiedererkannt, Herr Heßling!«

      Diederich sah zu Agnes hinüber, wie um ihr zu sagen: »Siehst du? Der merkt es, daß ich kein dummer Junge mehr bin.«

      »Bei Ihnen ist ja alles unverändert«, stellte Diederich fest und begrüßte Herrn Göppels Schwestern und Schwager. In Wahrheit aber fand er alle beträchtlich gealtert, besonders Herrn Göppel, der sich weniger munter benahm und dem ein kummervolles Fett von den Wangen hing. Die [80]Kinder waren nun größer, und irgendwo im Zimmer schien eine Person zu fehlen.

      »Ja, ja«, so schloß Herr Göppel die einleitende Unterhaltung, »die Zeit vergeht, aber gute Freunde finden sich immer wieder.«

      »Wenn du wüßtest, wie«, dachte Diederich verlegen und mit Geringschätzung, indes man zu Tisch ging. Beim Kalbsbraten fiel ihm endlich ein, wer damals ihm gegenüber gesessen hatte. Es war die Tante, die ihn so hochtrabend gefragt hatte, was er denn studiere, und die nicht gewußt hatte, daß Chemie etwas anderes war als Physik. Agnes, die er zu seiner Rechten hatte, erklärte ihm, daß diese Tante schon seit zwei Jahren tot sei. Diederich murmelte sein Beileid, im stillen aber sagte er sich: »Die quatscht also auch nicht mehr.« Ihm kam es vor, als ob hier alle bestraft und niedergedrückt seien, ihn selbst nur hatte das Schicksal, seinem Wert entsprechend, erhöht. Und er streifte Agnes, von oben herab, mit dem Blick des Besitzers.

      Die süße Speise ließ auf sich warten, gerade wie damals. Agnes wandte unruhig den Kopf nach der Tür, Diederich sah ihre schönen blonden Augen verdunkelt, als sei etwas Ernstes geschehen. Er hatte plötzlich tiefes Mitgefühl mit ihr, eine große Zärtlichkeit. Er stand auf und rief aus der Tür:

      »Marie! Der Krehm!«

      Wie er zurückkam, trank Herr Göppel ihm zu. »Das haben Sie früher auch schon gemacht. Sie sind doch hier wie’s Kind im Hause. Nicht, Agnes?« Agnes dankte Diederich mit einem Blick, der sein ganzes Herz aufrührte. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht feuchte Augen zu [81]bekommen. Wie wohlwollend die Verwandten ihm zulächelten! Der Schwager stieß mit ihm an. Was für gute Menschen! Und Agnes, die süße Agnes liebte ihn! Er verdiente so viel nicht! Das Gewissen schlug ihm laut, er nahm sich dunkel vor, nachher mit Herrn Göppel zu sprechen.

      Leider fing Herr Göppel nach dem Essen wieder von den Krawallen an. Wenn wir endlich den Druck der Bismarckschen Kürassierstiefel los waren, brauchte man die Arbeiter nun nicht mit Dicktun in Reden zu reizen. Der junge Mann (so nannte Herr Göppel den Kaiser!) redet uns noch die Revolution an den Hals …


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