Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz

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Der flammende Sumpf - Rudolf Stratz


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      „In Gatschine!“

      Ich sehe den Zar Allexander den Dritten vor mir — den finsteren, vollbärtigen, breitschultrigen, gekrönten Muschik, in seinem Riesenschloss, inmitten weiter, ummauertet Parkwälder, von einem fünffachen Gürtel von Garden, Gendarmen, Geheimpolizisten, Tscherkessen, Palastwachen umgeben.

      „Dort ist seine Majestät gut behütet!“ sage ich.

      „Wie aber, wenn der Zar Ende nächsten Monats zum Herbstaufenthalt nach der Krim fährt — zweitausend Werst von Petersburg bis Livadia durch das ganze europäische Russland? Die Bösewichte, die ihn bedrohen, müssen vor dieser Reise unschädlich gemacht werden!“

      „Hoffentlich schon heute oder morgen!“

      „Alle Grenzstationen — Wirballen — Alexandrowo — Podwolotschiska — sin dim Zustand verstärkten Schutzes. Wir werden unsere Pflicht erfüllen! Möge uns nur die russische Gesellschaft dabei helfen! Das ist das Furchtbare, dass sie nur zu oft die, die wir verfolgen, gerade in ihrer Mitte birgt! Nun: mit Gott!“

      Der bleiche Kronsbeamte gibt mir meinen Pass zurück. Ich verstaue das kostbare Dokument sorgfältig in einem Geheimfach meiner Brieftasche. Ein Händedruck mit den Tschinowniks. Für den Mann von der Ochrana in der Ecke habe ich längst, als politisch unverdächtig, jedes Interesse verloren. Ich stecke die Brieftasche in das Innenfutter meines Rocks und gehe hinüber zum Büfett. Ich nehme stehend schnell einen Imbiss. Ich trete auf die Holzplanken des Bahnsteigs hinaus. Es ist nun schon Nacht. Ich gähne. Ich schlenere den wartenden russischen Zug entlang. Er ruht, geräumiger und bequemer, auf breiteren Schienen, als die Bahnen des Westens. Aber ich frage missmutig den Träger, e rim Wagen erster Klasse mein Gepäck vor Stationsdieben bewacht:

      „Hast du denn kein Abteil für mich allein besorgt?“

      „Wie konnte ich? Der Zug ist überfüllt! Aber Euer Gnaden haben ja die ganze eine Seite für sich!“

      Der Arteltschik sprach wahr. Meine beiden Coupégefährten hatten sich auf die andere Hälfte des Abteils beschränkt. Ich erkannte in ihnen die beiden jungen russischen Fürsten, die mir vorhin der bleiche, apostelbärtige Tschinownik durch die Tür des Passraumes in der Reihe der Reisenden gezeigt hatte. Der jüngere der Brüder lag lang ausgestreckt, das Gesicht gegen die Wand, auf der Polsterbank, einen Plaid halb über der dunkelgrünen, russischen Gymnasiastenuniform, wie man sie im Sommer auch im Ausland, unter russischen Familien in deutschen Bädern, häufig sah. Der junge Mensch schlief bereits fest den gesunden Schlaf seiner, nach den Umrissen seiner Gestalt zu urteilen, sechzehn oder achtzehn Jahre. Der andere, ältere, zu Anfanf der Zwanzig, sass noch aufrecht am Fenster. Er gate unter der Lammfellmütze ein backenknochiges, echt slawisches Gesicht mit schwachem, schwärzlichem Schnurrbart und kaute an seinen Nägeln. Diese Nägel waren Schwarz. Ein Fürst? Warum nicht? Es gibt allerhand russische Fürsten. Auch tief in den öftlichen Gouvernements. Nicht alle unter den Tausenden sind gewohnt, im Englischen Klub in Petersburg zu soupieren . . .

      Die Bahnhofglocke bimmelt aufgeregt, kurzatmig zum drittenmal. Wir fahren los. In die Nacht hinein. Nach Russland hinein . . .

      Ich lasse mich auf meiner Seite des Abteils häuslich nieder und sage dabei zu dem nägelknabbernden Knjäs am Fenster:

      „Es tut mir leid, Ihnen beschwerlich zu fallen! Aber es gab keinen anderen Platz!“

      „Oh — das macht nichts! Man wird sich schon einrichten!“ erwidert er in einem reinen markigen Moskauer Russisch. Dann Verstummt er wieder und schaut in das Dunkel hinaus. Sein Gesichtsausdruck ist stumpf. Ziemlich ausdruckslos. Er seufzt. Fährt sich mit der Hand über die Augen. Packt die Beine des schlafenden Gymnasiasten und rückt sie etwas gegen die Wand.

      „Mache Platz, Kolja!“ sagt er kurz und verstaut seine Beine zu denen des Bruders auf der frei gewordenen Längshälfte der Bank. Kolja lässt es schlaftrunken geschehen. Er kuschelt seinen Schwarzkopf, von dem man nur das kurze im Nacken sieht, in die Polsterrolle und schlummert weiter. Die beiden Brüder liegen einander gegenüber, eng beisammen, der ältere mit dem Kopfende am Fenster, der Gymnasiast gegen den Seitengang des Wagens. Der Zug rollt langsam, gleichmässig, fast geräuschlos dahin. Er kennt nicht die Hast des Westens. Das dumpfe Singen der Räder, die pechschwarze Finsternis vor den Scheiben, das leise Geflacker der Wachskerzen, die unser Abteil nur matt erhellen — alles lullt ein und ladet zum Schlaf. Ich überzeuge mich noch einmal, mit dem gewohnten russischen Griff, dass ich alles bei mir habe: Uhr — Brieftasche — Pass — Geld. Dann werfe ich die Zigarette weg und mich selber der Länge nach auf die Bank. Nun merke ich erst recht, wie müde ich bin. In wenigen Minuten bin ich so tief im Land der Träume, wie die beiden jungen Knjäse drüben.

      Mitten in der nacht wache ich plötzlich auf. Ich weiss nicht warum. Ich weiss in meiner Schlaftrunkenheit im efsten Augenblick überhaupt nicht, wo ich mich befinde. Dann wird es mir aus dem Dröhnen der Achse unter mir klar. Ich bin noch halb benommen. Ich liege, ohne mich zu rühren, und blinzle nur verschlafen durch die noch fast geschlossenen Lider. Dabei bemerke ich, dass der junge, dunkelgrüne Gymnasiast mir gegenüber auch wach ist. Sein Bruder schnarcht schwer. Er aber sitzt aufrecht in seiner Ecke. Man sieht jetzt sein Antlitz. Es ist klein und weiss und mager. Ein feingeschnittenes, etwas herbes Jungengesicht, blass von der Reise, mit verstrubelten, kurzen, schwarzen Haaren über der niederen Stirne, einem schmalen zähen Mund und einem weichen Kinn über dem steifen Lyzeistenkragen. Den hat der junge Fürst aufgehakt und ebenso die oberen Knöpfe seiner Uniform geöffnet. Er kramt unter ihr suchend mit der Han auf seiner Brust. Wahrscheinlich vergewissert er sich, dass da sein Lederbeutel mit Geld und Pass richtig an Ort und Stelle über dem Bild des Namensheiligen baumelt. Jetzt wendet er sich, um besser zu sehen, mit tiefgesenktem Kopf dem schwachen Licht der Wachskerze zu, das von der Decke zittert. Sein grüner, weiss gefütterter Uniformrock klafft dabei halb aufgeklappt. Ich beobachte es gleichgültig, geistesabwesend. Ich halte die Lider absichtlich bis auf einen schmalen Spalt geschlossen, um nicht ganz wach zu werden, sondern, sobald dieser Koljinka rüben mit seinem Gewirtschafte fertig ist, gleich wieder einzuschlafen. Und dabeu durchzuckt es mich plötzlich vom Scheitel bis in die Fussspitze . . .

      Wie gesagt: der Uniformrock des Gymnasiasten steht offen. Man sieht ein Stück des weissen, rotgesticken Leinenhemds über seiner Brust. Und diese Brust, unter diesem Hemd, wölbt sich ganz deutlich in einem Busenansatz — jetzt, bei einer Seitenbewegung des jungen Knjäs gar nicht mehr zu verkennen: Es ist die Brust einer jungen Frau.

      Gleich darauf knöpft der Schüler seinen Rock des Zaren wieder zu. Er wirft einen raschen, forschenden, misstrauischen Blick zu mir hinüber, ob ich auch schlafe? Dieser Blick der glänzenden, schwarzen Augen ist unheimlich. Er ist starr und zugleich unruhig-beweglich. Es sind die fanatischen und leidenden Augen eines erwachsenen Menschen, der schon viel erlebt und gewollt und erlitten hat. Gleich darauf glättet sich der gespannte Ausdruck des kleinen, weissen Gesichts, das zu bleich und hager ist, um, trotz seiner Jugend, eigentlich hübsch zu sein. Der grüne Gymnasiast ist überzeugt, dass ich schlafe. Er nestelt seinen letzten obersten Knopf zu und streckt sich beruhigt wieder, das Antlitz gegen die Wand, zum Schlummer hin.

      Und ich lasse ihn in dem Glauben und liege mit geschlossenen Augen wach und sammle meine Gedanken . . .

      Und mach emir klar: Hier im Abteil, mit mir zusammen, fährt der Tod. Der Tod, der den Zaren, wenn er nicht durch die Postenketten von Gatschina zu ihm dringt, um so sicherer in wenigen Wochen auf der Fahrt nach der Krim umschatten wird. Der Tod, der, mit den gefälschten Pässen zweier junger russischer Fürsten, durch die engen Maschen des Grenzverhörs von Wirballen geschlüpft ist. Dort und an allen Eingangspforten des Russenreiches lauert jetzt noch die Geheimpolizei des Zaren auf die vom Ausland her gemeldeten Verschwörer. Gebt euch keine Mühe: die Mörder sind jetzt schon mitten im heiligen Russland! Da, auf der Bank mir gegenüber, liegen sie friedlich und schlafen . . . Oder ist es doch eine übertriebene Angst von mir? Ich klammere mich, während ich ausgestreckt ruhe und scheinbar auch schlafe, in meiner Verwirrung an diesen Gedanken. Nein: mit falschen Pässen, mit Verkleidungen in Männertracht spielt man in Russland nicht! Es ist, wenn es entdeckt wird, unter allen Umständen der Weg nach Sibirien! Es ist zu gefährlich! Das weiss jeder. Und darum ist da Gefahr für Russland. Höchste Gefahr.

      Und


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