Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Stefan Zweig

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Gesammelte Werke von Stefan Zweig - Stefan Zweig


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Schilderung, und man atmet salzigen Wind vom Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden Kampf der Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn gegen das Ewige der Dinge. Und man atmet auf, man ist erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust hat seinen Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt, sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder, stumpf für Landschaft: mit einer ungeheuren Gleichgültigkeit gegen die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches Wissen um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen, das die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei »Raskolnikow«, dem »Idioten«, bei den »Karamasows«, dem »Jüngling«, in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft sie spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. Großstadtrauch verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.

      Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach. Wach und sogar überwach. Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische Übersichtlichkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher, Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen Leben stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen im Konflikt mit einander und dem Schicksal einzig darum, weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt sich Jago als Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte. Die Menschen Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen. Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen einander restlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Das Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt, alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasows ist das Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tschermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakow sagt es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle Allesversteher.

      Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski einen jeden ins Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt, Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt: aber Realismus, der über sich selbst hinaus ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski, der Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus gesteigert.

      Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst, die tiefste und menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt manchmal der Krampf und die Not, dieses Übermaß von Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen Schicksals sich krümmen, an Michelangelo manchmal durch die mystische, steinerne, unerlösbare Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit, gepeitscht von den Bütteln des Geldes in die tiefste liefe des menschlichen Seins hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den niedersten Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von Licht und Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit.

      Architektur und Leidenschaft

       Inhaltsverzeichnis


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