Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Stefan Zweig
Читать онлайн книгу.sich seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht aber im wirtschaftlichen. Im Gegenteil, bis tief in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gerät Brasilien eigentlich in schwerere ökonomische Abhängigkeit von England und den anderen Industriestaaten, als es vordem von Portugal gewesen. Brasilien hat – in seiner Entwicklung gehemmt durch die Verbote Lissabons – die industrielle Revolution verschlafen, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts unsere Welt durchgreifend zu verändern begann. Bisher konnte es in der Lieferung seiner Kolonialprodukte jede Konkurrenz überwinden durch die Billigkeit seiner Arbeitskräfte, durch die Sklaverei, und im wirtschaftlichen Sinn den ersten Rang unter allen amerikanischen Kolonien behaupten. Noch zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung war es im Export gegenüber Nordamerika führend gewesen und hatte in seinen Absatzziffern in manchen Jahren sogar diejenigen Englands erreicht. Aber im neuen Jahrhundert ist ein neues Element in die Weltwirtschaft eingebrochen: die Maschine. Eine einzige Dampfmaschine in Liverpool oder Manchester leistet jetzt, von einem Dutzend Arbeiter bedient, mehr als hundert und bald tausend Sklaven in der gleichen Zeit, Handindustrie kann von nun an gegen organisierte Fabrikindustrie auf die Dauer ebensowenig ankämpfen, wie nackte Eingeborene mit ihren Pfeilen gegen Maschinengewehre und Kanonen. Dieses an sich schon verhängnisvolle Zurückbleiben gegen das Tempo der Zeit wird noch vermehrt durch ein besonderes Mißgeschick. In dem gewaltigen und fast vollständigen Katalog seiner Erze und Gesteine fehlt gerade jener Kraftstoff, der für das neunzehnte Jahrhundert als motorische Substanz entscheidend ist: die Kohle.
Brasilien hat in diesem entscheidenden Augenblick der Transport-und Kraftumstellung auf diese neue dynamische Substanz in seinem unübersehbaren Territorium nicht eine einzige Kohlengrube. Jedes Kilogramm muß viele Wochen weither verfrachtet und mit dem in seinem Wert rapid absinkenden Zucker überteuert bezahlt werden. Dadurch wird jeder Transport unrentabel, und durch die gebirgige Struktur des Landes verzögert sich der Bau von Eisenbahnen überdies noch um unersetzbare Jahrzehnte und setzt auch dann noch nur unzulänglich ein. Während sich der Umschlagrhythmus von Ware und Verkehr in den europäischen und nordamerikanischen Staaten von Jahr zu Jahr verzehnfacht, verhundertfacht, vertausendfacht, wehrt sich in Brasilien die Erde, Kohle herzugeben, stemmen sich die Berge und krümmen sich die Flüsse, als wollten sie sich weigern gegen das neue Jahrhundert. Bald zeigt sich das Resultat: von Jahrfünft zu Jahrfünft bleibt Brasilien immer mehr zurück in der modernen Entwicklung, und besonders der Norden mit seinen schlechten Verkehrsmitteln gerät in einen später kaum mehr aufzuhaltenden Verfall. Zu einer Zeit, da Schienenstränge in dreifachem und vierfachem Gürtel schon die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, von Süden nach Norden verbinden, sind hier auf einem gleich großen Terrain neun Zehntel des Landes Meilen und Meilen weit von jeder Schienenspur, und während den Mississippi und den Hudson und den San Lorenzo ständig die neuen Dampfboote auf-und niederfahren, erblickt man nur selten am Amazonas und São Francisco den Rauch eines Schornsteins. So kommt es, daß zu einer Zeit, da in Europa und Nordamerika die Kohlenminen und Eisenwerke, die Fabriken und Verkaufszentren, die Städte und die Häfen mit immer geringerem Zeitverlust zusammenarbeiten und sich die Potenz und Schlagkraft der Massenproduktion von Jahr zu Jahr übersteigert, Brasilien bis tief ins neunzehnte Jahrhundert bei den Methoden des achtzehnten, des siebzehnten und sechzehnten ohnmächtig stehenbleibt, immer nur dieselben Rohstoffe liefernd und dadurch im Absatz seiner Fertigwaren der Willkür des Welthandels wehrlos ausgeliefert.
So fällt und verfällt die Handelsbilanz; Brasilien tritt als dominierender Faktor aus der vordersten Reihe Amerikas in die zweite oder dritte zurück, und sein Wirtschaftsbild entbehrt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht einer gewissen Perversität. Denn gerade das Land, das mehr Eisen besitzt als vielleicht irgendein anderes der Erde, muß jede Maschine, jedes Werkzeug vom Ausland importieren. Obwohl es Baumwolle auf seinem Boden in unbeschränkter Fülle erzeugt, muß es den gewebten, den bedruckten Stoff aus England einführen. Obwohl seine Waldbestände unermeßlich und ungefällt sich dehnen, muß es Papier von auswärts kaufen und so jedes Objekt, das nicht mit unorganisierter, altväterlicher Handarbeit erzeugt werden kann. Wie immer in Brasilien würden großzügige Investitionen, die den Betrieb umorganisierten, hier Rettung bringen. Aber Brasilien fehlt es seit der Stockung des Goldes an Kapital, und so werden seine Eisenbahnen, seine ersten Fabriken, seine wenigen großzügigen Unternehmungen ausschließlich von englischen und französischen und belgischen Compagnien eingerichtet und das neue Kaiserreich als Kolonie anonymer Gruppen aller Weltausbeutung ausgeliefert. In einer Zeit, wo der Rhythmus der Bewegung, die lebendige Durchpulsung des Raums mit schöpferischen Energien für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines Landes entscheidend wird, ist Brasilien, das noch mit den alten Methoden und mit den alten Umsatzlangsamkeiten arbeitet, von einem vollkommenen Marasmus bedroht. Wieder einmal ist seine Wirtschaft bei einem Tiefpunkt angelangt.
Aber es gehört zur Besonderheit seiner Entwicklung, daß dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten jede seiner Krisen immer wieder durch eine plötzliche Umstellung überwindet, indem es, sobald sein Hauptexportartikel versagt, sich einen neuen und noch ergiebigeren findet. Wie das siebzehnte Jahrhundert durch den Zucker, das achtzehnte durch das Gold und die Diamanten, so zeitigt auch das neunzehnte ein solches Wunder des unvermuteten Aufstiegs durch den Kaffee. Nach dem Zyklus des Zuckers, des weißen Goldes, dem Zyklus des wirklichen Goldes setzt mit dem Kaffee der Zyklus des braunen Goldes ein, der dann noch für kurze Zeit durch den Zyklus des flüssigen Goldes, des Gummis, abgelöst wird, und es ist ein Triumphzug ohnegleichen. Denn mit dem Kaffee erschafft sich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in das zwanzigste hinein Brasilien ein absolutes Weltmonopol: wieder sind es die alten und so typischen Faktoren, die Ergiebigkeit der Erde, die Leichtigkeit der Anpflanzung, die Primitivität des Produktionsprozesses, die diesen neuen Artikel gerade Brasilen besonders gemäß machen. Die Kaffeebohne kann nicht mit Maschinen gepflanzt, nicht von Maschinen geerntet werden. Hier allein leistet der Sklave noch mehr als das eiserne Schwungrad. Und abermals ist es wie beim Zucker, beim Kakao, beim Tabak ein Qualitätsartikel, der an die verfeinerten Geschmacksnerven appelliert – eigentlich das notwendige Komplementprodukt zu diesen beiden früheren, denn als köstlicher Nachtisch bilden diese drei, die Zigarre, der Zucker, der Kaffee das ideale Trifolium.
Immer ist es seine Sonne und der Saft, die Kraft seiner Erde, die Brasilien retten. Was in der alten Heimat schon köstlich war, wird noch köstlicher auf dieser neuen Erde; nirgends gedeiht der Kaffee so üppig und mit solchem Aroma wie in dieser subtropischen Zone. Schon die früheren Jahrhunderte hatten diese Bohnen und ihre stimulierende Kraft gekannt. Aber wie der Kaffee 1730 ins Gebiet des Amazonas und 1762 nach Rio de Janeiro hinübergepflanzt wird, gilt er noch als Luxusartikel, und sein Absatz kann demgemäß für die Wirtschaft nicht entscheidend sein; in den statistischen Tabellen erscheint er zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts noch in den Quanten und wertmäßig weit hinter der Baumwolle, dem Leder, dem Kakao, dem Zucker und dem Tabak. Genau wie bei seinen älteren Brüdern, dem Tabak und dem Zucker, hilft erst die steigende, in immer breitere Schichten Europas und Nordamerikas eindringende Gewöhnung an dieses wundervolle Stimulans zu regerer Anpflanzung. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnen Produktion und Absatz dann plötzlich in Fieberkurven anzusteigen, und Brasilien wird der Kaffeelieferant der ganzen Welt. Immer hastiger muß es seine Produktion erweitern, um dem Bedarf nachzukommen, Hunderttausende und schließlich Millionen Arbeiter strömen in die Provinz São Paulo ein, die großen Häfen und Magazine von Santos werden ausgebaut, wo manchmal an einem einzigen Tage dreißig Frachtdampfer gefüllt mit Kaffeesäcken vor Anker liegen. Mit dem Export von Kaffee reguliert Brasilien für Jahrzehnte seine Wirtschaft, und welchen Wert dieser Export darstellt, zeigen die gigantischen Zahlen. Zwischen 1821 und 1900, in achtzig Jahren, liefert das Land für 270 Millionen und 835.000 englische Pfund, im ganzen bis heute für über zwei Milliarden englischer Pfunde; damit allein ist ein Großteil seiner Investitionen und seiner Einfuhr schon gedeckt. Aber anderseits wird durch diese Monopolproduktion Brasilien immer mehr von den Börsenpreisen abhängig und seine Währung an die Notierung des Kaffees verhängnisvoll gebunden; jeder Sturz der Kaffeepreise muß den Milreis mit sich reißen.
Und dieser Sturz der Kaffeepreise erweist sich schließlich als unaufhaltsam. Die Pflanzer, von den leichten Absatzmöglichkeiten angelockt, erweitern ständig ihre Fazendas, und da keine organisierte Planwirtschaft rechtzeitig dieser wilden Überproduktion entgegentritt, folgt eine Krise der andern. Die Regierung muß mehrmals intervenieren, um eine Katastrophe zu verhindern, einmal indem sie einen Teil der