Das entfesselte Wien. Hugo Bettauer

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Das entfesselte Wien - Hugo Bettauer


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Vergangenheit sprach. Nur betonte sie gerne, daß sie mit vierzehn geheiratet habe, also erst dreiunddreißig sei. Man konnte es glauben oder nicht. Die marmorweiße Schönheit ihres Körpers sprach dafür, die grauen Augen voll Leben und Erleben dagegen.

      Die achtzehnjährige Tochter Jutta Oblonski, ein zartes, zierliches Mädchen, sah fein und schön wie ein Meißner-Porzellanpüppchen aus, schien von dem Glanze und dem lauten Treiben ringsumher geblendet und betäubt zu sein und tanzte bedächtig und emsig, als würde es sich um eine Schulaufgabe handeln. Es war das erstemal, daß ihre Mutter sie in ein Nachtlokal mitgenommen hatte.

      Neben Frau Sonja saß ein mageres, blondes Mädchen von undefinierbarem Alter. Es konnte zwanzig oder auch dreißig sein. Komtesse Magda Huttwitz stammte aus Sachsen, lebte bei einer alten Tante, der Gräfin Eva Huttwitz, in Wien, man sagte ihr Reichtum und Geist nach. Und außerdem allerlei kleine Absonderlichkeiten. Zum Beispiel ihre fanatische Liebe zu Frau Sonja.

      Ob sie erwidert wurde? Ganz Wien tuschelte und flüsterte über Frau Sonja, man erzählte von ihren seltsamen Neigungen, von nächtlichen Orgien, die in ihrer Villa in der Weimarerstraße veranstaltet wurden, aber wenn man den Gerüchten nachging, zerflatterten sie in nichts, wurden ungreifbar.

      Ein hagerer Herr mit Habichtsnase, Baron Roch, jetzt nur mehr Herr Roch, Sektionsrat im Ministerium des Äußern, typischer Trottel aus der Monarchie, mit guter Erziehung, machte Frau Sonja eben auf Tod und Leben den Hof. Er war verschuldet und hätte die reiche Frau zu seiner Seelensanierung gut brauchen können. Komtesse Magda Huttwitz verfolgte seine Bemühungen spöttisch, wurde aber unruhig, als sich ein Insasse der Loge, ein hübscher, junger Bursch mit großen, treuherzigen Augen, über Frau Sonja beugte. Magda kannte das, sie ahnte, wie es über die Schultern ihrer Freundin rieselte, wußte, daß dies eine verlorene, qualvolle Nacht für sie bedeuten konnte.

      Der wohlbeleibte Bankier Jakob Leier klopfte mit dem Ring auf das Champagnerglas den Takt zum neuesten Shimmy „O Katharina, ich kauf’ mir ein’ Kapuzina“, als eben Paul Mautner die Loge betrat. Frau Sonja wendete sich lebhaft zu ihm, streckte ihm die schneeweiße, langfingerige Hand zum Kuß entgegen, begrüßte ihn so freudig, daß Magda Huttwitz zusammenzuckte.

      „Nett, daß Sie sich wieder zeigen! Man erzählt, daß Sie zu den Gerupften gehören?“

      „Ist so schlimm nicht,“ erwiderte Paul müde lächelnd, Bankier Leier aber begehrte auf:

      „Nicht so schlimm! Das sagt jeder, der, mit Respekt zu vermelden, die Hosen verloren hat! Warum nicht aufrichtig zugeben, was sich auf die Dauer nicht verbergen läßt? Schauen Sie mich an: ich erkläre laut und deutlich, daß ich pleite bin! Ein Glück, daß ich zu Hause in einer Schublade noch ein paar tausend Dollar entdeckt habe, sonst würde ich nicht hier im Parisien sitzen, sondern in einem Haustor fünf Deka Preßwurst essen. Also gestehen Sie, Mautnerchen, daß auch Sie kahl sind.“

      Mautner, der seine Wunden zu schmerzhaft empfand, um über sie scherzen zu können, zuckte die Achseln.

      „Natürlich, ich habe einen Teil meines Vermögens eingebüßt, aber immerhin, es ist zu ertragen!“

      Gab dem Gespräch brüsk eine andere Wendung, ließ sich Jutta vorstellen, die eben brav mit dem hübschen jungen Mann getanzt hatte. Er gab seiner ehrlichen Verwunderung darüber Ausdruck, daß die schöne Frau Sonja eine so erwachsene Tochter habe. Als er die kleine, warme und doch trockene Hand Juttas drückte, entstand eine Welle von Sympathie zwischen ihm und dem jungen Ding, das leicht errötete und ihn halb scheu, halb bewundernd anblickte. Er erwiderte den Blick, erquickte sich an dem taufrischen Anblick dieser Knospe, und das Gesicht Magdas, das ganz finster geworden war, begann sich zu glätten.

      Frau Sonja lehnte sich jetzt mit überschlagenen Beinen, deren köstliche Linie man fast bis zum Knie verfolgen konnte, zurück, blies aus einer exotischen Zigarette, die sie von dem türkischen Gesandten bekam, kunstvolle Ringe in die Luft und setzte das unterbrochene Gespräch fort.

      „Ich staune, daß kluge Männer, wie Sie es sind, sich mit dem französischen Franc so verspekulieren konnten! Das kommt davon, weil Männer auf ihr Ziel loszugehen pflegen, wie Stiere auf das rote Tuch. Sie alle haben zu wenig Psychologie betrieben, wollen nur von Materie und nichts von Geist wissen. Ich habe auch in Franc spekuliert, aber à la Hausse. Als er in Zürich auf zwanzig stand, habe ich gekauft, so viel gekauft, als ich nur konnte. Warum? Weil ich weiß, wie die Franzosen, auch wenn sie in der Minderheit waren, gegen die Deutschen gekämpft haben, weil ich weiß, was französischer Patriotismus, Sie können es auch Größenwahnsinn nennen, imstande ist. Weil ich genau weiß, daß es in Frankreich keine Frankzerstörer gibt, keinen Stinnes, keinen Menschen, der es wagen würde, offen seinem Vaterland zu schaden. Und ich mir sagte, daß die Franzosen den Franc einfach nicht fallen lassen werden, ebensowenig wie sie Verdun fallen ließen.“

      Die Männer schwiegen betroffen und Mautner dachte in sich hinein:

      „Statt mit den albernen Kokotten und Theatergänsen hätte ich mit dieser Frau ein Verhältnis haben sollen, dann wäre mir heute wohler.“

      Und im Bruchteil einer Sekunde spannen sich seine Gedanken fort, saugten sich an Frau Sonja fest, sahen in ihr die große Möglichkeit, die einzige Rettung. Aber seine Augen folgten nicht seinem Willen, glitten zu der kleinen Jutta hinüber, die ihn groß und fragend ansah. Fast mechanisch rückte er seinen Stuhl zurecht, so daß er dicht neben dem Mädchen saß und dessen weichen, weißen Kinderarm streifte.

      Nach Mitternacht brach man auf. Frau Sonja bestieg mit ihrer Tochter und Magda den prachtvollen großen Benz-Wagen, nachdem sie der Freundin gleichmütig gesagt hatte, sie möge bei ihr übernachten. Paul war es, als würden die gelblichen, feuchten Augen der sächsischen Komtesse aufleuchten wie Katzenaugen. Ihn lud Sonja zum Tee für den nächsten Sonntag ein und er nahm gerne an. Der Sektionsrat krähte, daß er noch in die Sacher-Bar, die bis drei Uhr offen halte, gehen müsse und schleppte den jungen, hübschen Mann mit, Mautner und Bankier Leier schlenderten durch die Kärntnerstraße. Leier murmelte unvermittelt: „Der Teufel soll die Börse holen.“ Paul erwiderte ingrimmig: „Hat sie schon geholt.“ Dann verabschiedeten sie sich, jeder mit trüben Gedanken zu sehr beschäftigt, um noch sprechen zu können.

      Als Paul Mautner allein war, blieb er stehen und verkrampfte die Hände, um nicht laut aufschreien zu müssen.

      Er war fertig, total fertig! Heute hatte er zwei goldene Zigarettendosen und eine Platinuhr verkauft und die paar Millionen reichten gerade, um dringende Rechnungen zu begleichen. Weitere Verkäufe von Schmucksachen und Teppichen würden ihn noch ein paar Wochen über Wasser halten. Aber was dann? Seine schöne Wohnung verkaufen und mit einem möblierten Zimmer tauschen? Ekel und Grauen schnürten ihm die Kehle zu. Das wäre das Ende, der unaufhaltsame Zusammenbruch, das Eingeständnis der Verarmung. Nur das nicht, nur sich nicht zu den Deklassierten stellen, nur nicht bemitleidet werden! Heute konnte er noch lügen, den Menschen Sand in die Augen streuen, heute war er noch ein Herr, der am Brahmsplatz eine fürstliche Junggesellenwohnung besaß. Das mußte so bleiben. Bis zu einem neuen Anfang oder bis zum bitteren Ende.

      Paul dachte an seine Armeepistole, die irgendwo im Schreibtisch lag. Letzter Ausweg, wenn es anders nicht ging.

      4. Kapitel

      Die pechserie

      Glück und Unglück pflegen serienweise aufzutreten. Ein Schnupfen, ein verstauchter Fuß, der Verlust einer Zigarettendose kann den Beginn von Schicksalsschlägen bedeuten, die unaufhaltsam auf einen niederprasseln. Ein unerwarteter Gewinn, die Eroberung einer Frau, eine gewonnene Wette — und man ist mitten in einer Glücksserie. Die wenigsten Menschen beachten das genug. Täten sie es, so würden sie rechtzeitig weiterem Unglück vorbeugen oder die günstige Konjunktur bis zur äußersten Möglichkeit ausnützen.

      Für Paul Mautner hatte die große Pechserie begonnen. Dem Verlust seines großen Vermögens folgte ein Ärgernis nach dem andern. Er besaß einen fünfhundertjährigen Rosenschiras-Teppich von fast unschätzbarem Werte.

      Sein Diener ließ den brennenden Spirituskocher fallen, so daß der Teppich unheilbare Brandstellen bekam. Für das schon verkaufte Automobil mußte Mautner die enorme


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