Das, was du suchst. Marjoleine de Vos

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Das, was du suchst - Marjoleine de Vos


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Nordholland eine Spur von einstiger Geschäftigkeit – hätte man nicht irgendwann einmal Deiche, Warften und Wierden angelegt, wäre dieses Land längst nicht schon so lange fruchtbares Siedlungsland und würde vollkommen anders aussehen. Wer nicht weiß, dass es so war, dass einst auf aufgeschütteten Hügeln Siedlungen entstanden, dass man den fruchtbaren Lehm nutzte und das Wasser nach Kräften zurückdrängte, der bemerkt auch nichts davon. Der fragt sich höchstens, warum die Wege so seltsam gewunden sind in einer solch weiten Landschaft ohne erkennbare Hindernisse, die einem geraden Verlauf entgegenstünden – ohne zu ahnen, dass diese Wege einst an gewundenen Wasserläufen entlang führten, ja dass viele Tümpel Überreste von Prielen sind, entstanden durch das einströmende Wasser, und dass die Eisbahnen im Dorf häufig die Folge abgetragener Wierden sind.

      In Eenum und Leermens gibt es solche Eisbahnen, die ganz tief zu liegen scheinen, weil die Wierde so steil abgetragen wurde. Das sieht eigentlich ziemlich hübsch aus. Ganz besonders im Winter, wenn es friert und dort Schlittschuh gelaufen wird, aber auch in all den Monaten, in denen so eine Wiese hoffnungsfroh von glitzerndem Wasser bedeckt ist. Oder im Sommer, wenn neben der schönen alten Kirche Schafe weiden. Ich bin mir sicher, dass jemand mit meinem Erhaltungstrieb vehement gegen das Abtragen der Wierden gewesen wäre, als man damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfing, weil das so ein fruchtbarer Boden war. Und ob ich dagegen gewesen wäre! Dabei sind die abgetragenen Wierden heute oft wunderschön anzusehen – diese spektakulären Höhenunterschiede hätte es hier ohne die Geldgier beziehungsweise Armut von damals nie gegeben.

      Wer diese Landschaft flach nennt, schaut nicht richtig hin. Flach? Von wegen! Überall gibt es Deiche, abgetragene Wierden, noch bestehende Wierden, manche Äcker haben ihr sanftes Gefälle behalten, und Kirchen ragen weit über ihre Umgebung hinaus – was ist daran flach?

      Aber wie gesagt: Sehen muss man lernen. So wie es für denjenigen, der nichts von der Geschichte weiß, die Eschflur um Drenthe nicht gibt, gibt es auch das mittelalterliche Groningen nicht für denjenigen, der nicht weiß, dass es so etwas wie ein mittelalterliches Groningen gegeben hat. Man muss erst lernen, diese Spuren zu lesen, sonst gibt es schlichtweg keine Spuren.

      Auch für denjenigen, der davon weiß, ist es nicht immer leicht, selbst wenn Spuren nicht unbedingt so sehr im Verborgen liegen müssen. Zeerijp soll einst eine beeindruckende Obstwirtschaft gehabt haben, hat mir mal jemand erzählt. Zeerijp? Eine erstaunlich große Kirche, eine breite Dorfstraße und schon hat man den Ort wieder verlassen … Aber anscheinend floss dort die Marmelade in Strömen – na ja, zumindest in ihrer unverarbeiteten Obstform. Aber als ich das von dem Obst erst mal wusste und etwas genauer hinsah, wenn ich morgens den Mühlenweg nahm oder den Weg durchs angelegte Wäldchen, fiel mir plötzlich auf, dass die meisten Häuser Gärten von einer beachtlichen Tiefe besitzen, und dass dort bemerkenswert viele Obstbäume stehen. Überall Obstgärten, und zwischen den Bäumen häufig Beerensträucher, denn so gehört sich das. Auf einmal wurde der etwas langweilige Anblick, den das Dorf vielerorts bietet, ein ganzes Stück lebendiger. Weil ich begann, mehr wahrzunehmen. Es dauert immer eine Weile, bis man eine Landschaft tatsächlich wahrnimmt. Einmal irgendwo spazieren gehen ist keinmal irgendwo spazieren gehen: Man bekommt einen ungefähren Eindruck, weiß aber noch nicht, wo es sumpfig wird im Herbst, wo man einen schönen Ausblick hat, wo man abends kurz in der Sonne sitzen kann, oder aus welchem Winkel man am besten sieht, dass der Turm von Eenum lächerlich schief ist. Man muss ein bisschen mit der Landschaft verschmelzen, und das geht nur durch Wiederholung.

      In Oefeningen bij een beek («Übungen an einem Bach») beschreibt der Dichter C. O. Jellema, wie er an seinen Heimatort Beilen in Drenthe zurückkehrt. Er hat unendlich viele Erinnerungen an sein Elternhaus, an den Garten, von dem aus man im Nu über einen Fußweg in die von Wallhecken umgebenen Felder gelangte, an die Sandwege, an den sich dort windenden Bach. Natürlich ist ihm bewusst, dass das, was er dort vorfinden wird, nicht mehr das sein kann, was er in Erinnerung hat – aber dass es sich so dramatisch verändert konnte? Unvorstellbar. Das Kind, das er einst war, ist vollkommen ausgelöscht, schreibt er. Die Weiler weg, die Sandwege verschwunden, die Brombeeren, der Fußweg, der gewundene Bach – die ganze Welt, die ihm so innig vertraut war: einfach weg. «Und jetzt», so Jellema, «darf ungestraft an den Gleisen, für Zugreisende deutlich erkennbar und sozusagen als Wiedergutmachung für die Eintönigkeit der rechteckigen, durch tote Kanäle voneinander abgegrenzte Parzellen, ein Schild stehen, dessen Aufschrift es sogar noch schafft, die Zerstörung der uralten Kulturlandschaft zu leugnen: ‹Naturentwicklungsprojekt›.»

      Was er sieht, ist eine absurde, unlesbar gemachte, seelenlose Landschaft, noch dazu eine mit einem angeberischen Schild, als ob sie jetzt, endlich, aufgewertet wäre.

      Aber …, dachte ich, als ich seinen schönen Text las, in dem die Empörung, lange bevor sie beißend werden konnte, zu philosophischer Wehmut abgeschwächt wurde: … Würde jemand, der keinerlei Erinnerungen an diesen Ort hat, ebenfalls sehen, dass die Sandwege im Nichts verlaufen, dass die Kanäle zu gerade und die Felder zu groß sind – kurzum, dass hier etwas fehlt? Oder würde er, ohne etwas zu bemerken, daran vorbeilaufen, an einem der vielen unauffälligen Orte Hollands?

      Letzteres dürfte wohl eher der Fall sein.

      Vielleicht sollten wir in der Grundschule auch noch eine andere Form von Leseunterricht bekommen und zwar im Landschaftslesen. Oder vielleicht sollte jeder zuallererst ein Gedicht von Willem van Toorn auswendig lernen müssen, in dem er in der Landschaft Spuren menschlichen Lebens erkennt. Es lautet folgendermaßen:

      Zwischen Wolken und Erde die Zeichen:

      Das waren wir, sind wir. Sieh nur,

      wir graben Land aus dem Wasser,

      stapeln Steine zu Türmen,

      unser Blick lässt keinen Ort in Ruh’.

      Am ausgefransten Rand unseres Blickfelds

      trifft das Auge noch auf Vergangenes:

      der schiefe Zaun, die vergess’ne

      Wanne im Heuschuppen, Münzgeld,

      gehoben mit dem Schiffswrack,

      der durchbrochene Brückenbogen.

      Wir sind nur kurz hier, eine Unruhe,

      in der Stille nach Sprache tastend,

      ein Gesetz zum Zähmen der Angst.

      Lies nur. Es hat uns gegeben.

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      Neulich stand ich auf einer Wierde, genauer gesagt auf der Wierde von Groot-Wetsinge. Darauf thront eine kleine Kirche, aber diese Kirche gibt es nicht mehr. Zu sehen ist sozusagen noch der Fußabdruck einer Kirche, und mit ein bisschen Fantasie sieht man es vor sich – das schmale Schiff, das Ziermauerwerk an den Bögen, die Farbe der mittelalterlichen Backsteine, den etwas schiefen Turm mit seinem Satteldach. Ein Teil des Friedhofs ist erhalten geblieben. Die Kirche muss aus dem 12. Jahrhundert gewesen sein, errichtet auf einer Wierde, die schon damals mehr als tausend Jahre auf ein Gotteshaus wartete. Das komplett restaurierte Küsterhaus hingegen steht noch, beziehungsweise wieder, und auch das Pfarrhaus ist noch da, ein Steinhaus aus dem 13. Jahrhundert mit seinen hohen Fenstern, seinem Keller, seiner Aussage, schon so lange bewohnt zu sein. Es ist ganz normal, sich das mittelalterliche Amsterdam oder Utrecht vorzustellen, aber seltsam ungewohnt, sich Groninger aus dem 13. Jahrhundert vor Augen zu rufen, die in einem schönen Haus auf einem kleinen Hügel lebten und das Land bestellten, die ihre Häuser zu stets schmuckeren Gebäuden mit schönen Wohnzimmern und verzierten Schranktüren ausbauten. Man würde eher denken, hier hätten bloß ungebildete Bauern und Arbeiter gelebt. Im 15. Jahrhundert gab es schon längst eine kulturelle Blüte im Norden, früh-humanistische Gelehrte wie Rudolf Agricola, der Lehrmeister von Erasmus von Rotterdam, und Johann Wessel Gansfort pflegten von hier aus internationale Kontakte, es war also alles andere als ein rückständiges Gebiet.

      Da spürt man dann doch wieder, dass man die Vergangenheit einfach nicht zu fassen bekommt. Was hat dieses Land den damaligen Bewohnern bedeutet, wie haben sie es wahrgenommen? Sie müssen sehr oft Angst vor dem Wasser gehabt haben und das zu Recht. Während der Marcellusflut Anfang


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