Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva". Sigmund Freud

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Der Wahn und die Träume in W. Jensens


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seiner Phantasie, welches ihm den schmerzlichen Ausruf entlockt: »O, daß du noch wärest und lebtest!« Allein diesmal war er offenbar zu kritisch gewesen, denn die Erscheinung verfügt über eine Stimme, die ihn fragt, ob er ihr die weiße Blume bringen wolle, und zieht den wiederum Fassungslosen in ein langes Gespräch. Uns Lesern, welchen die Gradiva bereits als lebende Persönlichkeit interessant geworden ist, teilt der Dichter mit, daß das Unmutige und Zurückweisende, das sich tags zuvor in ihrem Blick geäußert, einem Ausdruck von suchender Neugier oder Wißbegierde gewichen war. Sie forscht ihn auch wirklich aus, verlangt die Aufklärung seiner Bemerkung vom vorigen Tag, wann er bei ihr gestanden, als sie sich zum Schlafen hingelegt, erfährt so vom Traum, in dem sie mit ihrer Vaterstadt untergegangen, dann vom Reliefbild und der Stellung des Fußes, die den Archäologen so angezogen. Nun läßt sie sich auch bereit finden, ihren Gang zu demonstrieren, wobei als einzige Abweichung vom Urbild der Gradiva der Ersatz der Sandalen durch sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder festgestellt wird, den sie als Anpassung an die Gegenwart aufklärt. Offenbar geht sie auf seinen Wahn ein, dessen ganzen Umfang sie ihm entlockt, ohne je zu widersprechen. Ein einziges Mal scheint sie durch einen eigenen Affekt aus ihrer Rolle gerissen zu werden, als er, den Sinn auf ihr Reliefbild gerichtet, behauptet, daß er sie auf den ersten Blick erkannt habe. Da sie an dieser Stelle des Gespräches noch nichts von dem Relief weiß, muß ihr ein Mißverständnis der Worte Hanolds nahe liegen, aber alsbald hat sie sich wieder gefaßt, und nur uns will es scheinen, als ob manche ihrer Reden doppelsinnig klingen, außer ihrer Bedeutung im Zusammenhang des Wahnes auch etwas Wirkliches und Gegenwärtiges meinen, so z. B. wenn sie bedauert, daß ihm damals die Feststellung der Gradivagangart auf der Straße nicht gelungen sei. »Wie schade, du hättest vielleicht die weite Reise hieher nicht zu machen gebraucht.« (G. p. 89.) Sie erfährt auch, daß er ihr Reliefbild »Gradiva« benannt, und sagt ihm ihren wirklichen Namen Zoë. »Der Name steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer Hohn, denn Zoë heißt das Leben.« – »Man muß sich in das Unabänderliche fügen«, entgegnet sie, »und ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein.« Mit dem Versprechen, morgen um die Mittagsstunde wieder an demselben Orte zu sein, nimmt sie von ihm Abschied, nachdem sie sich noch die Asphodelosstaude von ihm erbeten. »Solchen, die besser daran sind, gibt man im Frühling Rosen, doch für mich ist die Blume der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige.« (G. p. 90.) Wehmut schickt sich wohl für eine so lang Verstorbene, die nun auf kurze Stunden ins Leben zurückgekehrt ist.

      Wir fangen nun an zu verstehen und eine Hoffnung zu fassen. Wenn die junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva wieder aufgelebt ist, Hanolds Wahn so voll aufnimmt, so tut sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu befreien. Es gibt keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte man sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders, als sich zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen und dieses dann möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoë die richtige Person dafür ist, werden wir wohl erfahren, wie man einen Wahn wie den unseres Helden heilt. Wir wollten auch gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es träfe sich sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück, wenn Behandlung und Erforschung des Wahnes zusammenfielen und die Aufklärung der Entstehungsgeschichte desselben sich gerade während seiner Zersetzung ergäbe. Es ahnt uns freilich, daß unser Krankheitsfall dann in eine »gewöhnliche« Liebesgeschichte auslaufen könnte, aber man darf die Liebe als Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war unseres Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch eine volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und Leblose gerichtet?

      Nach dem Verschwinden der Gradiva schallt es nur noch einmal aus der Entfernung wie ein lachender Ruf eines über die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene nimmt etwas Weißes auf, das die Gradiva zurückgelassen, kein Papyrusblatt, sondern ein Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen verschiedener Motive aus Pompeji. Wir würden sagen, es sei ein Unterpfand ihrer Wiederkehr, daß sie das kleine Buch an dieser Stelle vergessen, denn wir behaupten, man vergißt nichts ohne geheimen Grund oder verborgenes Motiv.

      Der Rest des Tages bringt unserem Hanold allerlei merkwürdige Entdeckungen und Feststellungen, die er zu einem Ganzen zusammenzufügen verabsäumt. In der Mauer des Portikus, wo die Gradiva verschwunden, nimmt er heute einen schmalen Spalt gewahr, der doch breit genug ist, um eine Person von ungewöhnlicher Schlankheit durchzulassen. Er erkennt, die Zoë-Gradiva brauche hier nicht in den Boden zu versinken, was auch so vernunftwidrig sei, daß er sich dieses nun abgelegten Glaubens schämt, sondern sie benütze diesen Weg, um sich in ihre Gruft zu begeben. Ein leichter Schatten scheint ihm am Ende der Gräberstraße vor der sogen. Villa des Diomedes zu zergehen. Im Taumel wie am Vortage und mit denselben Problemen beschäftigt, treibt er sich nun in der Umgebung Pompejis herum. Von welcher leiblichen Beschaffenheit wohl die Zoë-Gradiva sein möge, und ob man etwas verspüren würde, wenn man ihre Hand berührte. Ein eigentümlicher Drang trieb ihn zum Vorsatze, dieses Experiment zu unternehmen, und doch hielt ihn eine ebenso große Scheu auch in der Vorstellung davon zurück. An einem heißbesonnten Abhange traf er einen älteren Herrn, der nach seiner Ausrüstung ein Zoologe oder Botaniker sein mußte und mit einem Fange beschäftigt schien. Der wandte sich nach ihm um und sagte dann: »Interessieren Sie sich auch für die Faraglionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber mir ist es durchaus wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Faraglionen bei Capri aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch am Festland finden lassen muß. Das vom Kollegen Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut; ich habe es schon mehrfach mit bestem Erfolge angewendet. Bitte, halten Sie sich ganz ruhig –.« (G. p. 96.) Der Sprecher brach dann ab und hielt eine aus einem langen Grashalm hergestellte Schlinge vor eine Felsritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. Hanold verließ den Lacertenjäger mit der kritischen Idee, es sei kaum glaublich, was für närrisch merkwürdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten, in welche Kritik er sich und seine Absicht, in der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva zu forschen, natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam ihm übrigens bekannt vor, als hätte er es flüchtig in einem der beiden Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an einen Bekannten gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wanderung brachte ihn ein Seitenweg zu einem bisher von ihm nicht entdeckten Haus, welches sich als ein drittes Wirtshaus, der »Albergo del Sole« herausstellte. Der unbeschäftigte Wirt benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete, daß er auch zugegen gewesen sei, als man in der Gegend des Forums das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte Hanold schon früher gehört und darüber als über eine Fabelerfindung irgend eines phantasiereichen Erzählers die Achsel gezuckt, aber heute erweckten die Reden des Wirtes bei ihm eine Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser eine mit grüner Patina überzogene Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart neben den Überresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden sei. Er erwarb diese Spange ohne weitere kritische Bedenken, und als er beim Verlassen des Albergo an einem offenstehenden Fenster einen mit weißen Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang ihn der Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für die Echtheit seines neuen Besitztums.

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