Die Traumdeutung. Sigmund Freud

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Die Traumdeutung - Sigmund Freud


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Bedeutung hat nun das Hervortreten ungewollter Vorstellungen im Traume, welche Schlüsse für die Psychologie der wachenden und der träumenden Seele lassen sich aus diesem nächtlichen Auftauchen kontrastierender ethischer Regungen ableiten? Hier sind eine neue Meinungsverschiedenheit und eine abermals verschiedene Gruppierung der Autoren zu verzeichnen. Den Gedankengang von Hildebrandt und anderen Vertretern seiner Grundansicht kann man wohl nicht anderswohin fortsetzen, als dass den unmoralischen Regungen auch im Wachen eine gewisse Macht innewohne, die zwar gehemmt ist, bis zur Tat vorzudringen, und dass im Schlaf etwas wegfalle, was, gleichfalls wie eine Hemmung wirksam, uns gehindert habe, die Existenz dieser Regung zu bemerken. Der Traum zeigte so das wirkliche, wenn auch nicht das ganze Wesen des Menschen und gehörte zu den Mitteln, das verborgene Seeleninnere für unsere Kenntnis zugänglich zu machen. Nur von solchen Voraussetzungen her kann Hildebrandt dem Traum die Rolle eines Warners zuweisen, der uns auf verborgene sittliche Schäden unserer Seele aufmerksam macht, wie er nach dem Zugeständnis der Ärzte auch bisher unbemerkte körperliche Leiden dem Bewusstsein verkünden kann. Und auch Spitta kann von keiner anderen Auffassung geleitet sein, wenn er auf die Erregungsquellen hinweist, die z. B. zur Zeit der Pubertät der Psyche zufließen, und den Träumer tröstet, er habe alles getan, was in seinen Kräften steht, wenn er im Wachen einen streng tugendhaften Lebenswandel geführt und sich bemüht, die sündigen Gedanken, sooft sie kommen, zu unterdrücken, sie nicht reifen und zur Tat werden zu lassen. Nach dieser Auffassung könnten wir die »ungewollten« Vorstellungen als die während des Tages »unterdrückten« bezeichnen und müssten in ihrem Auftauchen ein echtes psychisches Phänomen erblicken.

      Nach anderen Autoren hätten wir kein Recht zu letzterer Folgerung. Für Jessen stellen die ungewollten Vorstellungen im Traume wie im Wachen und in Fieber- und anderen Delirien »den Charakter einer zur Ruhe gelegten Willenstätigkeit und eines gewissermaßen mechanischen Prozesses von Bildern und Vorstellungen durch innere Bewegungen dar« (1855, 360). Ein unmoralischer Traum beweise weiter nichts für das Seelenleben des Träumers, als dass dieser von dem betreffenden Vorstellungsinhalt irgendwie einmal Kenntnis gewonnen habe, gewiss nicht eine ihm eigene Seelenregung. Bei einem anderen Autor, Maury, könnte man in Zweifel geraten, ob nicht auch er dem Traumzustand die Fähigkeit zuschreibt, die seelische Tätigkeit nach ihren Komponenten zu zerlegen, anstatt sie planlos zu zerstören. Er sagt von den Träumen, in denen man sich über die Schranken der Moralität hinaussetzt: »Ce sont nos penchants qui parlent et qui nous font agir, sans que la conscience nous retienne, bien que parfois elle nous avertisse. J’ai mes défauts et mes penchants vicieux; à l’état de veille, je tâche de lutter contre eux, et il m’arrive assez souvent de n’y pas succomber. Mais dans mes songes j’y succombe toujours ou pour mieux dire j’agis par leur impulsion, sans crainte et sans remords. … Evidemment les visions qui se déroulent devant ma pensée et qui constituent le rêve, me sont suggérées par les incitations que je ressens et que ma volonté absente ne cherche pas à refouler.« (1878,113.)

      Wenn man an die Fähigkeit des Traumes glaubte, eine wirklich vorhandene, aber unterdrückte oder versteckte unmoralische Disposition des Träumers zu enthüllen, so könnte man dieser Meinung schärferen Ausdruck nicht geben als mit den Worten Maurys (S. 165): »En rêve l’homme se révèle donc tout entier à soi-même dans sa nudité et sa misère natives. Dès qu’il suspend l’exercice de sa volonté, il devient le jouet de toutes les passions contre lesquelles, à l’état de veille, la conscience, le sentiment de l’honneur, la crainte nous déjendent.« An anderer Stelle findet er das treffende Wort (S. 462): » Er führt dann als Beispiel an, dass Dans le songe, c’est surtout l’homme instinetif qui se révèle. … L’homme revient pour ainsi dire à l’état de nature quand il rêve; mais moins les idées acquises ont pénétré dans son esprit, plus les penchants en désaccord avec elles conservent encore sur lui l’influence dans le rêve.« seine Träume ihn nicht selten als Opfer gerade jenes Aberglaubens zeigen, den er in seinen Schriften am heftigsten bekämpft hat.

      Der Wert all dieser scharfsinnigen Bemerkungen für eine psychologische Erkenntnis des Traumlebens wird aber bei Maury dadurch beeinträchtigt, dass er in den von ihm so richtig beobachteten Phänomenen nichts als Beweise für den automatisme psychologique sehen will, der nach ihm das Traumleben beherrscht. Diesen Automatismus fasst er als vollen Gegensatz zur psychischen Tätigkeit.

      Eine Stelle in den Studien über das Bewusstsein von Stricker lautet (1879): »Der Traum besteht nicht einzig und allein aus Täuschungen; wenn man sich z. B. im Traum vor Räubern fürchtet, so sind die Räuber zwar imaginär, die Furcht aber ist real.« So wird man darauf aufmerksam gemacht, dass die Affektentwicklung im Traume die Beurteilung nicht zulässt, welche man dem übrigen Trauminhalt schenkt, und das Problem wird vor uns aufgerollt, was an den psychischen Vorgängen im Traum real sein mag, das heißt einen Anspruch auf Einreihung unter die psychischen Vorgänge des Wachens beanspruchen darf?

      G) Traumtheorien und Funktion des Traumes

      Eine Aussage über den Traum, welche möglichst viele der beobachteten Charaktere desselben von einem Gesichtspunkt aus zu erklären versucht und gleichzeitig die Stellung des Traumes zu einem umfassenderen Erscheinungsgebiet bestimmt, wird man eine Traumtheorie heißen dürfen. Die einzelnen Traumtheorien werden sich darin unterscheiden, dass sie den oder jenen Charakter des Traumes zum wesentlichen erheben, Erklärungen und Beziehungen an ihn anknüpfen lassen. Eine Funktion, d. i. ein Nutzen oder eine sonstige Leistung des Traumes, wird nicht notwendig aus der Theorie ableitbar sein müssen, aber unsere auf die Teleologie gewohnheitsgemäß gerichtete Erwartung wird doch jenen Theorien entgegenkommen, die mit der Einsicht in eine Funktion des Traumes verbunden sind.

      Wir haben bereits mehrere Auffassungen des Traumes kennengelernt, die den Namen von Traumtheorien in diesem Sinne mehr oder weniger verdienten. Der Glaube der Alten, dass der Traum eine Sendung der Götter sei, um die Handlungen der Menschen zu lenken, war eine vollständige Theorie des Traumes, die über alles am Traum Wissenswerte Auskunft erteilte. Seitdem der Traum ein Gegenstand der biologischen Forschung geworden ist, kennen wir eine größere Anzahl von Traumtheorien, aber darunter auch manche recht unvollständige. Wenn man auf Vollzähligkeit verzichtet, kann man etwa folgende lockere Gruppierung der Traumtheorien versuchen, je nach der zugrunde gelegten Annahme über Maß und Art der psychischen Tätigkeit im Traum:

      1) Solche Theorien, welche die volle psychische Tätigkeit des Wachens sich in den Traum fortsetzen lassen, wie die von Delboeuf. Hier schläft die Seele nicht, ihr Apparat bleibt intakt, aber unter die vom Wachen abweichenden Bedingungen des Schlafzustandes gebracht, muss sie bei normalem Funktionieren andere Ergebnisse liefern als im Wachen. Bei diesen Theorien fragt es sich, ob sie imstande sind, die Unterschiede des Traumes von dem Wachdenken sämtlich aus den Bedingungen des Schlafzustandes abzuleiten. Überdies fehlt ihnen ein möglicher Zugang zu einer Funktion des Traumes; man sieht nicht ein, wozu man träumt, warum der komplizierte Mechanismus des seelischen Apparats weiterspielt, auch wenn er in Verhältnisse versetzt wird, für die er nicht berechnet scheint. Traumlos schlafen oder, wenn störende Reize kommen, aufwachen, blieben die einzig zweckmäßigen Reaktionen anstatt der dritten, der des Träumens.

      2) Solche Theorien, welche im Gegenteile für den Traum eine Herabsetzung der psychischen Tätigkeit, eine Auflockerung der Zusammenhänge, eine Verarmung an anspruchsfähigem Material annehmen. Diesen Theorien zufolge müsste eine ganz andere psychologische Charakteristik des Schlafes gegeben werden als etwa nach Delboeuf. Der Schlaf erstreckt sich weit über die Seele, er besteht nicht bloß in einer Absperrung der Seele von der Außenwelt, er dringt vielmehr in ihren Mechanismus ein und macht ihn zeitweilig unbrauchbar. Wenn ich einen Vergleich mit psychiatrischem Material heranziehen darf, so möchte ich sagen, die ersteren Theorien konstruieren den Traum wie eine Paranoia, die zweiterwähnten machen ihn zum Vorbilde des Schwachsinns oder einer Amentia.

      Die Theorie, dass im Traumleben nur ein Bruchteil der durch den Schlaf lahmgelegten Seelentätigkeit zum Ausdruck komme, ist die bei ärztlichen Schriftstellern und in der wissenschaftlichen Welt überhaupt weit bevorzugte. Soweit ein allgemeineres Interesse für Traumerklärung vorauszusetzen ist, darf man sie wohl als die herrschende Theorie des Traumes bezeichnen. Es ist hervorzuheben, mit welcher Leichtigkeit gerade diese Theorie die ärgste Klippe jeder Traumerklärung, nämlich das Scheitern an einem der durch


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