Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram

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weiterhin gegenständlich zu bestimmen sucht. Hegel drückt es so aus: »Dies unbedingte Allgemeine, das nunmehr der wahre Gegenstand des Bewusstseins ist, ist noch als Gegenstand desselben; es hat seinen Begriff als Begriff noch nicht erfasst.« (112/107 f.) Diese Diagnose besagt: Der Verstand denkt die Beständigkeit theoretischer Größen noch unhinterfragt als etwas, auf das man sich gegenständlich zu beziehen hat, fragt also nicht danach, worin Beständigkeit überhaupt besteht. So kann er auch keinen Sinn daraus ziehen, dass das Beständige sich nicht stabilisieren lässt, dass es sich als unbeständig erweist. Dies wird erst durch die grundlegende Umorientierung in der Explikation von Wissen möglich, die Hegel ab dem Selbstbewusstseinskapitel nachvollzieht.

      Das Scheitern des Verstandes an seinen eigenen Ansprüchen lässt sich erst einmal am Begriff der Kraft nachvollziehen, mittels dessen Hegel sich auf naturwissenschaftliche Theorien seiner Zeit bezieht. Wer Erscheinungen durch in den Dingen wirksame Kräfte erklärt, der geht davon aus, dass Kräfte sich in Erscheinungen ausdrücken. Der Ausdruck aber ist nicht selbst die Kraft, sondern von der Kraft verschieden. Aus diesem Grund muss er als das Wirken einer anderen Kraft erklärt werden. Hegel spricht hier von »sollizitieren« – von einem »Anreizen«: Um sich zu äußern, muss eine Kraft von einer anderen angereizt werden. Erstere ist die »sollizitierte« und letztere die »sollizitierende« Kraft (vgl. 117/112 f.). So hat eine Kraft (als Erklärung dessen, was sich ausdrückt) nur im Rahmen von mehreren Kräften Bestand.

      Damit ist grundsätzlich schon absehbar, dass es mit dem Begriff der Kraft nicht gelingt, einen theoretischen Gegenstand zu fassen, der für sich Bestand hätte. Kräfte gibt es nur im Rahmen eines »Spiels der Kräfte« (121/116), innerhalb dessen keine der Kräfte aus sich heraus besteht. Keine Kraft hat aus sich heraus Realität, sondern – wenn überhaupt – hat das Realität, was die Kräfte untereinander verbindet. Aus diesem Grund sagt Hegel: »Die Realisierung der Kraft ist also zugleich Verlust der Realität […].« (120/115) Für den Wissensanspruch des Verstandes bedeutet dies: Der Verstand sieht sich gezwungen, von dem Gedanken Abstand zu nehmen, dass man von spezifischen Erscheinungen auf spezifische theoretische Gegenstände schließen kann. Die angenommenen theoretischen Gegenstände lassen sich nur dadurch fassen, dass sie unter anderen entsprechenden Gegenständen verortet werden. Es gibt also nicht einzelne Kräfte, sondern Kraft überhaupt, und zwar in unterschiedlichen Erscheinungsformen.

      Man kann hier davon sprechen, dass Kräfte holistisch konstituiert sind: Eine Kraft gibt es nur dann, wenn es zugleich viele andere Kräfte gibt. Für die Erkenntnis von Kräften, auf die der Verstand aus ist, bedeutet dies, dass ich eine Kraft nur dadurch zu begreifen vermag, dass ich zugleich viele andere Kräfte begreife. Kräfte bestehen, diesem holistischen Charakter entsprechend, immer in einem Zusammenhang von Kräften. Sie haben also nicht nur für sich keine Realität, sondern genau genommen überhaupt keine Realität, wie Hegel im Weiteren darlegt:

      Es ist also weder die Kraft noch das Sollizitieren und Sollizitiert-werden, noch die Bestimmtheit, bestehendes Medium und in sich reflektierte Einheit zu sein, weder einzeln für sich etwas, noch sind es verschiedene Gegensätze; sondern was in diesem absoluten Wechsel ist, ist nur der Unterschied als allgemeiner oder als ein solcher, in welchen sich die vielen Gegensätze reduziert haben. Dieser Unterschied als allgemeiner ist daher das Einfache an dem Spiele der Kraft selbst, und das Wahre desselben; er ist das Gesetz der Kraft. (125/120)

      Der Verstand kommt damit zu einem neuen Verständnis der theoretischen Gegenstände, auf die er sich bezieht: Es handelt sich um Gesetze. Diese sollen das eigentlich Beständige hinter den Erscheinungen ausmachen: »Die übersinnliche Welt ist hiemit ein ruhiges Reich von Gesetzen […].« (125 f./120)

      Aber auch diese neuen theoretischen Gegenstände erweisen sich als instabil. Hegel erläutert das mit dem Begriff der »verkehrte[n] Welt« (133/128). Wiederum geht es ihm um die Frage, ob die theoretischen Gegenstände aus sich heraus Bestand haben. Seine Antwort ist – plausiblerweise – ein Nein. Ein Gesetz gibt es nur durch die einzelnen Fälle, die unter dem Gesetz stehen. Für das Gesetz gilt entsprechend, was schon für die Kräfte galt: Es hat nur in seinen Erscheinungen Bestand. Nun aber sollen die Erscheinungen zugleich von dem Gesetz unterschieden werden, denn sie sind unbeständig und wechselnd, das Gesetz hingegen ist beständig und unterliegt keinem Wandel. Der Verstand ist von daher dazu verleitet, die Erscheinungen als eine Form des Seins und die Gesetze als eine andere Form des Seins zu begreifen. Mit dieser Verdopplung dessen, was ist, kommt es nun auch zu einer Verdopplung dessen, was sich zeigt. Die Erscheinungen zeigen sich in ihrem Sein genauso, wie die Gesetze sich in ihrem Sein zeigen. Dabei zeigen sich die Gesetze, die ja von den Erscheinungen her erschlossen worden sind, jetzt in ihrer Eigenart durch ein anderes Erscheinen. Da aber jegliches Erscheinen nur von den Erscheinungen her bekannt ist, lässt sich ein anderes Erscheinen in seiner Andersheit nur dadurch fassen, dass man die Erscheinungswelt verkehrt.

      Eine solchermaßen verkehrte Welt aber ist für Hegel nur ein Symptom dafür, dass der Zusammenhang von Gesetz und Erscheinung nicht angemessen begriffen wird. Es handelt sich nicht um einen Unterschied zwischen verschiedenen Formen des Seins, sondern nur um einen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Auffassungsweisen.32 Erscheinungen und Gesetze sind also ein und dasselbe. Genau dies begreift der Verstand nicht, da er Wissen durch einen Bezug auf etwas Gegenständliches, das Bestand hat, erlangen will. Der Verstand zeigt auch hier noch einmal den grundlegenden Widerspruch zwischen dem Beständigen und dem Unbeständigen. In dem Versuch, das Beständige festzuhalten, gelingt es ihm nicht, dessen Zusammenhang mit dem Unbeständigen zu denken. Aus diesem Grund setzt sich dieser Zusammenhang immer wieder gegen die Ansprüche der Wissenskonzeption durch.

      Diese Diagnose Hegels gibt uns eine erste Idee davon, wie Hegel den Übergang zum Selbstbewusstseinskapitel denkt: Er wendet sich nun einer Wissenskonzeption zu, deren Anspruch es ist, der Bewegung zwischen dem Beständigen und dem Unbeständigen gerecht zu werden. Hegel charakterisiert diese Bewegung sehr abstrakt, indem er von »Unendlichkeit« (vgl. 136 f./131 f.) spricht. Diese Unendlichkeit ist aber kein Gegenstand, auf den ein Bewusstsein sich (theoretisch) bezieht. Es handelt sich um das Sein des Bewusstseins selbst, das aus einer steten Veränderung aus Bezugnahmen auf Gegenstände heraus besteht. Selbstbewusstsein ist so Hegels allgemeiner Titel dafür, dass das Bewusstsein sich in seinen eigenen Bewegungen begreift. Dieser Begriff aber ist nicht dadurch zu realisieren, dass das Bewusstsein sich zum Gegenstand macht. Zu realisieren ist er nur durch Praktiken, mittels deren das Bewusstsein seine Einheit herstellt. Sehr verkürzt gesagt: Der Übergang vom Bewusstseinskapitel zum Selbstbewusstseinskapitel ist ein Übergang von Wissenskonzeptionen, die Wissen theoretisch, zu Wissenskonzeptionen, die Wissen praktisch zu begründen suchen.

      Robert Stern hat klärend dargelegt, dass die Interpretation des Übergangs vom Bewusstseinskapitel zum Selbstbewusstseinskapitel in dieser Weise von der Frage gelöst werden kann, ob Hegel es mit Kant hält oder nicht.33 Kant hat die These vertreten, dass Zusammenhänge im Wissen nur unter der Voraussetzung einer Einheit des Selbstbewusstseins (der sogenannten »transzendentalen Apperzeption«) möglich sind.34 Es sieht nun erst einmal so aus, als schließe sich Hegel hier dieser Kantischen These an, wenn er zu argumentieren scheint, dass Wissen seine Einheit nur im Selbstbewusstsein gewinnt.35 Die hier skizzierte Interpretation macht aber verständlich, dass der Übergang anders gedeutet werden muss: Es handelt sich um einen Übergang, mit dem wir zu einem ersten Verständnis davon gelangen, dass Wissensansprüche immer in praktischen Kontexten zustande kommen.

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