Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur. Martina Stemberger
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Martina Stemberger
Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur
Umschlagabbildung: Sergej Amin
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.de eMail: [email protected]
ISSN 2626-0697
ISBN 978-3-89308-462-3 (Print)
ISBN 978-3-89308-007-6 (ePub)
Intro
„Nie wurde so viel gelesen und geschrieben wie heute“: Mit diesem starken Statement beginnt eine Deklaration der Autorengruppe Fiktion aus dem Jahr 2013, die sich mit der „digitalen Zukunft unserer Literatur“ und einer neuen Breitenkultur des „alltägliche[n] Schreiben[s]“ auseinandersetzt. Letzteres „lässt die Schwelle, auch selbst Gedichte, Geschichten und Romane zu verfassen, sinken. Fast jeder kann seine Texte weltweit anbieten und sich über sie austauschen. Wer damit größeren Erfolg hat, kann anschließend auch in traditionellen Verlagen reüssieren“, fügen die Autor*innen optimistisch hinzu (Bremer/Bußmann et al. 2013). Anstatt jener auditiv dominierten „Kultur des Hörens“, die Welsch (1996) heraufziehen sieht, führt die Digitalisierung derart mitten in eine medientechnisch aktualisierte „Ära Gutenberg“ zurück (Eco/Carrière 2011: 14). Geht in der Post-Romantik die Demokratisierung bezüglich der Leserschaft mit der Elitarisierung literarischer Produktion einher (Schlanger 2008: 118), so erscheint diese Arbeitsteilung zusehends obsolet; die Konfrontation mit – auch kanonisch-klassischer – Literatur verlagert sich hin zu kreativer Interaktion.
Höchst instruktiv hinsichtlich dieser neuen populären Lese- und Schreibpraxis ist die Fanfiction, die – Segment und Symptom einer generelleren Transformation der literarischen Kultur unserer Zeit – Anfang des 21. Jahrhunderts eine geradezu explosive Dynamik entfaltet; zu einer Expedition in diese bunte Parallelwelt lädt dieser Dialoge-Band ein.
„… the Aeneid was a fanfiction too“? Eine Frage der Definition
Fanfiction bezeichnet eine Form appropriativ-derivativer bzw. (so der präferable, da neutralere Terminus) transformativer Literatur, die, produziert von in sogenannten Fandoms – heute meist Online-Communities – interagierenden Fans, z. B. auf Romanen, Theaterstücken, Musicals, Filmen, TV-Serien, Comics, Anime/Manga oder Videospielen, z. T. aber auch auf der Geschichte realer historischer und zeitgenössischer Personen beruht. Wie weit ist der Begriff sinnvollerweise zu fassen? Dass Literatur- und Kunstschaffende – Profis wie Amateure – nicht ex nihilo arbeiten, sondern aus früheren Werken Inspiration schöpfen, ist ja alles andere als neu. Wenn Vergil mit Aeneas eine Nebenfigur Homers zum Helden seines eigenen Epos macht, tut er im Prinzip eben das, was Legionen von ano- bzw. pseudonymen Fanfiction-Autor*innen auf bescheidenerem Niveau betreiben. „Isn’t the Aeneid a Roman-based fanfic of The Iliad?“, fragt Jung (2019): „[…] isn’t that how all forms of literature progress through time?“
Gerade Vergil als früher Fanfic-Writer ist ein populärer Legitimationstopos: „I can only imagine the looks of people when someone would tell them that, technically, the Aeneid was a fanfiction too […]“, bedauert eine Autorin das Negativ-Image von „fanfiction just because it’s called fanfiction these days“ (zit. Aragon/Davis 2019: 52). Als „fanfiction based on fanfiction“ präsentiert eine andere ihre Aeneis-Reinterpretation (FloatingCowskull: Lavinia’s Stand, AO3, 25.02.2014): „These characters are over 2000 years old, and stolen [from] Virgil, who stole them from Homer […]“ (FFN, 10.09.2013). Verstehen wir Fanfiction als „a form of collective storytelling“, dann dürfen überhaupt die Ilias und die Odyssee als „the earliest versions of fan fiction“ gelten (Hellekson/Busse 2014: 6).
Für Eco (1990: 510) ist der Mensch ein „animale fabulatore per natura“, nach MacIntyre (1999: 216) „essentially a story-telling animal“; Iser (1993: 16) zufolge gehört „Fiktionsbedürftigkeit“ zu unserer anthropologischen Ausstattung. Der Mensch wäre also ein Geschichten erzählendes und erfindendes, aber auch nach-erzählendes und nach-erfindendes, kurz: ein fanfiktionales Tier. „Fandoms are just a basic, human response to stories“, betont Coppa (zit. Drozd 2018), Herausgeberin einer Anthologie von Fanfics als Folk Tales for the Digital Age (2017); insofern ist die heutige Online-Fanfiction eine neue Ausdrucksform jener zutiefst menschlichen, identitäts- und kulturstiftenden Leidenschaft, „the same story over and over in different ways“ zu erzählen (Hutcheon 2006: 9) – und in diesem Nach- und Umerzählen alter Geschichten auch aktuelle Problematiken zu verhandeln; als Form von „recursive literature“ (Tosenberger 2014) bzw. postmodernes Mythos-Surrogat bietet sie Einblicke in individuelle wie kollektive Prozesse narrativer Weltkonstruktion.
Auch wenn sich „many, perhaps all, literary and cultural artifacts as fan works and their producers and receivers as fans“ im weitesten Sinne interpretieren lassen (Kahane 2016), ist es natürlich wenig ergiebig, einfach die gesamte Literaturgeschichte – beginnend mit der Ilias, der Odyssee und der Aeneis – unter Fanfiction einzuordnen. Allzu restriktiv definiert umgekehrt der Enzyklopädie-Gigant Larousse, der die Fanfiction erst 2017 lexikalisiert, und zwar als „von einem Fan im Internet angebotene Erzählung, die eine bereits existierende Fiktion (Roman, Manga, Film, TV-Serie, Videospiel) fortsetzt oder eine Variation davon darstellt“.
Fanfiction auch im engeren Sinn gibt es schon vor dem Internet-Zeitalter; bis heute aktive Communities bilden sich um das Werk Jane Austens und Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes. Der Begriff wird im Zusammenhang mit den Science-Fiction-Fankulturen der 1930er Jahre gebraucht, wobei „fan fiction“ hier nicht die transformative Dimension der Texte, sondern „original fiction by amateur writers“ (Jamison 2013: 74), alternativ auch „fiction about fans and fandom“ (Andy Sawyer, ibid.: 77) bezeichnet.
Der Beginn der Media-Fanfiction nach heutigem Verständnis, d. h. „in the sense of amateur-authored stories set in an already created universe“ (ibid.: 84), kann in den späten 1960ern verortet werden – und erscheint v. a. mit einer TV-Kultserie jener Zeit assoziiert: Star Trek alias Raumschiff Enterprise, deren frühe Staffeln in den USA in den Jahren 1966 bis 1969 herauskommen. Dabei gilt es die Geschichte des Genres auch kulturspezifisch zu betrachten; in Russland ist das Gründungswerk der Fanfiction vielmehr The Lord of the Rings bzw. Vlastelin kolec: „Fandom-wise, Lord of the Rings was for Russians what Star Trek was for Americans“, wie Prassolova (2007) konstatiert. In Deutschland wiederum ist der Erfolg von Anime und Manga in den 1990ern für die Popularisierung des einstigen „niche phenomenon“ zentral (Cuntz-Leng/Meintzinger 2015).
Von Star Trek bis Harry Potter: Fanfiction zwischen Poetik und Politik
Rund um Star Trek entwickelt sich ein Fandom mit eigenen Magazinen – den Fanzines (angefangen mit den legendären Spockanalia), die, postalisch oder bei eigenen Fan-Conventions vertrieben, von der Reichweite her klarerweise nicht annähernd mit der heutigen Internet-Fanfiction zu vergleichen sind. Und dennoch: Auf Star Trek gehen mancherlei nach wie vor gebräuchliche Kategorien der Fanfiction zurück. Diese verfügt über ein elaboriertes internes Organisationssystem, ihren eigenen Jargon – der, für Uneingeweihte obskur, zugleich eine Initiations- und Identifikationsfunktion erfüllt – sowie ihre eigenen Subgenres, darunter der sogenannte Slash: Kirk/Spock oder auch nur knapp K/S – so markiert wurden (und werden) Stories, in denen die Star-Trek-Protagonisten ein mehr als freundschaftlich-kollegiales