Das Virus und das Digitale. Roberto Simanowski
Читать онлайн книгу.Keine Einsamkeit bei so vielen Medien zur Hand, aber doch eine Unterbrechung des Alltags, die bedrückend war.
So seltsam entrückt war die Welt noch nie. So leer die Straßen am hellerlichten Tage. Manche dachten da an Katastrophenfilme oder zumindest Edward Hooper, heitere Naturen eher an den Verhüllungskünstler Christo, während die Melancholiker Lyrik dachten, nicht Goethes Osterspaziergang, sondern T. S. Eliots Wasteland: „April is the cruellest month“. Und jeden Tag sang man für jemand anderen „Happy Birthday to you“, zweimal hintereinander beim Händewaschen. Denn so lange, hieß es, braucht die Seife, um den unsichtbaren Feind zu erledigen. Es war ein Krieg, der ohne viel Lärm an vielen Fronten geführt wurde.
Das Virus hatte die Qualität von Flugzugabstürzen und Naturkatastrophen, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal „Omnibus“-News genannt hatte: weil sie jeden Menschen gleichermaßen berühren, jenseits politischer Lager und weltanschaulicher Positionen. Omnibus-News schaffen ein geeintes Publikum. Sie sind die Wunschmeldung der Nachrichtenmedien, die so ihre Reichweite und Auflage immens erhöhen können – wenn sie früher als die Konkurrenz berichten oder dramatischere Bilder bieten. Eine Pandemie ist ein Omnibus-Ereignis, das dauert und alle betrifft. Es gibt, abgesehen vom Nord- und Südpolareis, faktisch kein Außen mehr. Covid-19 ist ein „enemy of humanity“, erklärte der Chef der WHO. Eine Erfahrung, die der Menschheit – trotz der nationalen Alleingänge, die es dann gab – lang nicht mehr vergönnt war.
Dass die Menschheit diese Erfahrung dennoch schnell wieder vergessen wird, legt der Blick in die Geschichtsbücher nahe: Die Spanische Grippe steht ganz und gar im Schatten des Ersten Weltkriegs, obgleich sie mindestens dreimal so viele Todesopfer forderte. Ein Ereignis, dem ein geheimer Plan und böse Menschen fehlen, lässt sich eben schlecht erzählen, es sei denn, es geschieht verschwörungstheoretisch. Und selbst dann fehlen die Helden, die wagemutig ihr Leben fürs Vaterland opfern.4 Untergang ohne Glorie. Gerade deswegen aber sollte der Mensch sich diesmal erinnern. Denn auch im Kampf der Zukunft, im Kampf gegen den Klimawandel müssen die Menschen Opfer bringen, die nicht zum Heldenepos taugen. Es braucht eine Erinnerungskultur, die den Herausforderungen unseres Jahrhunderts entspricht. Diese Pandemie war eine Art Generalprobe. Aber das greift vor. Die Klimakrise war seit Anfang des Jahres kein Thema mehr. Zunächst galt es, Covid-19 zu überleben.
Natürlich fragten sich jetzt alle, wie lange dies noch dauert. Zugleich begann die Spekulation, was anders sein wird, wenn es vorbei ist. Die großen Gewinner dieser Krise, das war schnell klar, werden die Dienstleister sein, mit deren Hilfe sich die nun gebotene „soziale Distanz“ am besten durchsetzen ließ: soziale Netzwerke, Online-Shops, Telekommunikationsunternehmen, Lieferdienste, Anbieter von Überwachungssoftware für den Laptop der Angestellten, um auch in Zeiten des Home-Office die Arbeitsdisziplin zu sichern. Was vor Corona als „frictionless life“ per Internet vermarktet wurde, war nun pandemiegemäß als „touchless life“ der letzte Schrei: für Arbeitsbesprechungen, Seminare, Familienkonferenzen und ansteckungsfreie Corona-Partys. Und natürlich hatten die Dienstleister des Digitalen Recht: Die Trennung der Körper bedeutet nicht soziale Distanz. Im Gegenteil: In dieser Situation erlaubte gerade die Digitalisierung, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Ein Salut auf das Silicon Valley!
Kein Wunder, dass sich der Aktienwert dieser Unternehmen seit Ende 2019 vervielfachte. Ein Wunder hingegen, sollte sich das mit dem Ende der Krise ändern. So war zum Beispiel von den Lehrkräften, die zuvor immer wieder betont hatten, wie wichtig aus sozialer und pädagogischer Sicht der Direktkontakt vor Ort sei, weniger Widerstand zu erwarten, nachdem sie endlich wussten, wie Zoom oder Webex funktioniert. Zugleich war klar: Es wird nun mehr Druck geben, an den neu erprobten Kommunikationsformen festzuhalten, zumindest als Hybridform von Präsenz- und Bildschirmunterricht. Man wird es Fortschritt nennen und darin zugleich ein probates Mittel sehen, die finanziellen Verluste der Krise aufzufangen.
Es dauerte nicht lange, bis es eine Offensive Digitale Schultransformation gab, die den Ausbau der digitalen Infrastruktur an Schulen forderte: als unverzichtbare Voraussetzung nicht nur für die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs in einer Pandemie, sondern auch, um für die Herausforderungen der Digitalisierung gewappnet zu sein. Sicher, es war beklagenswert, dass viele Schulen noch immer kein stabiles Internet hatten und manche Lehrer nicht wussten, wie man große PDF-Dateien verschickt, ganz zu schweigen von ambitionierteren Formen des Unterrichts am Bildschirm. Es ist beklagenswert, wenn die Schule wegen mangelnder Ausstattung und Ausbildung in einem Notfall wie diesem ihrem Bildungsauftrag kaum nachkommen kann. Aber warum sollte man am Fernunterricht selbst in postpandemischer Zeit festhalten, wie auch der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche bitkom forderte: „Die Corona-bedingte Digitalisierung hat einen überfälligen Epochenwechsel in den Schulen eingeleitet. Das Rad dürfen wir nicht einfach zurückdrehen.“5 Immerhin: Bald gab es auch eine Offensive zur Verteidigung der Präsenzlehre im Hochschulbetrieb, die sich dagegen richtete, dass Corona als nachgereichte Begründung benutzt wurde für Entwicklungen in der Lehre, die vor der Pandemie äußerst kritisch diskutiert worden waren?6
Man nennt es Trittbrettfahrer. Und ohne Zweifel: Corona war gut für viele davon. Das Prinzip der körperlichen Distanz wird das Corona-Virus überleben und in vielen Bereichen nun erst richtig zur Blüte kommen. Die Schulen und Universitäten, die sich lange wacker gegen die Digitalisierung gewehrt hatten, gehören mit Sicherheit zu den Verlierern. In den USA sah die Bildungsministerin, nun, da die Schulen und Colleges ihren Regelbetrieb pandemiebedingt nicht aufrechterhalten konnten, die Chance, ihr Konzept der Privatisierung des Bildungswesens durchzusetzen: Bildungsgutscheine, die der Staat, statt wie bisher ins Schulsystem zu investieren, den Eltern gibt, sollten diesen erlauben, selbst zu entscheiden, wo ihre Kinder zur Schule gehen. Hat man das nötige Zugeld, kann man dann seine Kinder sogar auf eine renommierte Privatschule schicken. Fehlt das Kleingeld, reicht es immerhin für ein paar Online-Kurse.
Die IT-Unternehmen, die den Schulen und Universitäten in der schwierigen Corona-Zeit so hilfreich zur Seite standen, hätten gewiss nichts dagegen. Aber sie warten gar nicht erst auf die Vorlage der Bildungsministerin. Google lancierte im September seine Career Certificate-Offensive, die am College vorbei viel kürzer und viel billiger den Abschluss versprach, auf den es Google und vergleichbaren IT-Unternehmen ankam: Just Programming, ohne den Core-Course-„Quatsch“ der Liberal Arts Colleges, die von Informatik-Studenten verlangen, auch Kurse in Philosophie und Literatur zu belegen. Als würde man dadurch besser im Programmieren. War es der Anfang vom Ende der Hochschulbildung in den USA? War Deutschland, dessen Bildungspolitik sich ja grundlegend von der US-amerikanischen unterscheidet, vor einer solchen Entwicklung gefeit?
Der Erfolg, mit dem man auf die Herausforderungen der Corona-Krise reagiert, könnte sich als Eigentor erweisen. Die deutschen Universitäten stellten ihre Lehre nun notgedrungen auf Digitalbetrieb um – und nutzten den Krisenmodus für Umstrukturierungen. So vollzogen die Rhein-Main-Universitäten Frankfurt am Main, Mainz und Darmstadt das, was lange schon gewollt war, bisher aber immer an internen Einsprüchen gescheitert war: Sie wuchsen digital zusammen und boten mit standortverteilten Lehrveranstaltungen das RMU-Studium an. Studentinnen, die an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingeschrieben waren, konnten nun problemlos Online-Kurse an der TU-Darmstadt besuchen. Was wollte man gegen solche Synergie-Effekte sagen!
Nichts, außer vielleicht, dass standortverteilte Lehrveranstaltungen kein Privileg von Universitäten sind, die sich räumlich nahestehen. Wenn das Studium vom heimischen Computer aus geschieht, sind alle möglichen Kooperationen und Konstellationen denkbar: überregional, international, in Echtzeit oder asymmetrisch, betrieben von technophilen Lehrerinnen oder organisiert von Bildungsmanagern, die viel Geld in die Hand nehmen, um sicherzustellen, dass die Videos ihrer Universität nicht nur die Studierenden der Konkurrenz im Nachbarort anziehen, sondern die der ganzen Welt. Ohne Frage: Die Digitalisierung der Lehre führt zu Optimierung und Standardisierung der Lehrangebote und bedeutet das Ende der Massenuniversität alten Stils mit all ihren vielmals beklagten Problemen der überfüllten Lehrveranstaltungen, mangelnden Studentenbetreuung und eines Lehrpersonals, dem möglicherweise das persönliche Interesse oder die pädagogische Eignung fehlt, um eine anspruchsvolle Lehre anzubieten. Und überhaupt: Macht es denn Sinn, dass an verschiedenen Universitäten jeweils das Gleiche unterrichtet wird? So die Argumente derer, die am Fernstudium auch