Kapitalismus und politische Demokratie. Joachim Perels
Читать онлайн книгу.als der Vermittlungsinstanz zwischen den bürgerlichen Privatinteressen und der Exekutive.
Im Parlament konzentriert sich die Herrschaft des Bürgertums. Das Zensuswahlrecht schirmt die Klassen, denen kein kapitalistisch fungierendes Privateigentum zur Verfügung steht, vom Parlament ab, hält sie in politischer Hörigkeit. Zwei Wochen nach der Annahme der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung von 1789 »verkündete der bedeutendste Staatsrechtler der Nationalversammlung, der Abbé Sieyès: ›Frankreich ist keine Demokratie und darf zu keiner solchen gemacht werden.‹ Und gleich darauf hob die Versammlung den Grundsatz der politischen Gleichheit auf und reservierte das Wahlrecht für die Besitzenden (…). Sieyès fand auch die richtigen Definitionen, um diese Klasseneinteilung und damit das Wesen der neuen Gesellschaftsordnung deutlich zu machen. Er definierte die Aktivbürger als die ›wahren Aktionäre des sozialen Unternehmens‹, die Passivbürger als die ›Arbeitsmaschinen‹ dieses Betriebes.«9 Die Repräsentanten von Besitz und Bildung, durch eine homogene Interessenbasis miteinander verbunden, die antagonistische Konflikte im Gesetzgebungsverfahren ausschließt, entscheiden im Parlament über die Eingriffe in Eigentum und Freiheit (also des Bereichs institutioneller Garantien und Grundrechte), von denen sie selbst betroffen werden. Das parlamentarische Gesetz kann insofern als die Quersumme ihrer Interessen fungieren.10 Das Gesetz muß, um den allgemeinen Interessen des kapitalistisch produzierenden Bürgertums zu genügen, eine generelle Norm ohne rückwirkende Kraft sein: so erscheint eine Privilegierung ausgeschlossen, die Gleichheit der Wettbewerber in der freien Konkurrenz gesichert. Gleichzeitig garantiert die generelle Norm, »der archimedische Punkt des Rechtsstaats« (Rudolf von Gneist), die für den kapitalistischen Betrieb konstitutive Kalkulation der Gewinnchancen: Eingriffe in die Sphäre von Privateigentum und Freiheit sind, da sich aus der allgemeinen Norm im Wege des logischen Schluß Verfahrens eine zwingende Auslegung ergibt, berechenbar. Sie geschieht durch die keiner Suprematie unterliegende Judikative, die, allein an das Gesetz gebunden, als »Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht«10a, fungiert.11
Entsprechend der gesellschaftlichen Lage der Bourgeoisie nimmt der bürgerlich-parlamentarische Rechtsstaat eine Zwischenstellung zwischen der Fürsten- und der Volkssouveränität ein.12 »Revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre«13 ist das Bürgertum darauf bedacht, die mit dem Privatrechtssystem sanktionierte Minoritätsherrschaft der Produktionsmittelbesitzer nicht durch das verfassungsstrukturelle Formprinzip der Demokratie des ganzen Volkes gleichsam hinterrücks bedrohen zu lassen.14 Der (…) »Gegensatz von Liberalismus und Demokratie zeigt sich (…) in seiner entscheidenden Bedeutung als der Gegensatz der Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates gegen die Konsequenzen eines politischen Gestaltungsprinzips. Das liberale Bürgertum stand zwischen der absoluten Monarchie und der nachdrängenden proletarischen Demokratie (…). Das kritische Jahr 1848 hatte die Lage sehr auffällig gezeigt: gegenüber den politischen Ansprüchen einer starken Monarchie machte das Bürgertum die Rechte des Parlaments, d. h. der Volksvertretung, also demokratische Forderungen geltend; gegenüber einer proletarischen Demokratie suchte es Schutz bei einer starken monarchischen Regierung, um bürgerliche Freiheit und Privateigentum zu retten. Gegenüber Monarchie und Aristokratie berief es sich auf die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, gegenüber einer kleinbürgerlichen oder proletarischen Massendemokratie auf die Heiligkeit des Privateigentums und einen rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff.«15 Die auf den Schutz des Privatrechtssystems zugeschnittene rechtsstaatliche Verfassungsstruktur steht somit quer zur Demokratie, weil sich in ihr der vierte Stand, das Proletariat, dessen Eigentumslosigkeit die Voraussetzung des Privatrechtssystems bildet, gegen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft stellen kann. Im bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaat wird der absolute Herrscher vom Thron gestoßen, damit ihn das absolute Kapital besteigen kann.16 Im Rechtsstaat schützt es seine soziale Macht. Die Verfassungsstruktur ist mit dem Privatrechtssystem synchronisiert.
Dies trifft mit einer spezifischen Variante auch für das Deutschland des Reiches von 1871 zu. Bedingt durch die politische Schwäche des Bürgertums, das zuletzt vor der Fürstensouveränität im preußischen Verfassungskonflikt kapituliert hatte, wurde die Substanz des Privatrechtssystems nicht durch die Vorherrschaft des Parlaments garantiert, sondern durch die quasi-absolutistische Bürokratie und Judikative, die den formalen Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats (allgemeines Gesetz, Gewaltenteilung, Grundrechtssystem) unterlagen und sie gewährleisteten. Die deutsche konstitutionelle Monarchie enthält die rechtsstaatliche Beschränkung der königlichen Gewalt, ohne das monarchische Prinzip zu beseitigen.17 »Der Monarch blieb der Träger der verfassungsgebenden und damit verfassungsgesetzlich nicht zu erfassenden, prinzipiell unbegrenzten Gewalt.«18 Auf diesen Sachverhalt, der Garantie der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit für das Bürgertum und dessen Abstinenz von der politischen Herrschaft durch das Medium des Parlaments, ist die deutsche formalisierte Rechtsstaatstheorie, die, im Gegensatz etwa zu England, die Rechtsform von der politischen Struktur des Staates abspaltet, bezogen.19 Der Rechtsstaat »bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen«.20 Dieser Satz von Friedrich Julius Stahl wurde von Rechtsstaatstheoretikern des Kaiserreichs kanonisiert: die politische Schwäche des Bürgertums, »Ziel und Inhalt des Staates« zu bestimmen, zeitigte eine entsprechende Verfassungstheorie.21 Sie tangierte freilich nicht den Schutz des bürgerlichen Privatrechtssystems; sie entsprach vielmehr den Interessen eines Bürgertums, das sich einem sich organisierenden Proletariat gegenübersah, gegen das der Monarch als fortexistierender legibus solutus probate Machtmittel – wie das Sozialistengesetz – anzuwenden versprach.
1 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8, Berlin 1969, S. 196 f.
2 K. Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 369.
3 K. Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 252 zit. nach G. Lukács, Der junge Hegel, Neuwied 19673, S. 81. In ähnlicher Weise äußerte sich Fichte: »Es ist den Eigentümern durchaus gleichgültig, wer sie schützt, wenn sie nur geschützt werden; das einzige Augenmerk dabei ist, so wohlfeil als möglich. Der Staat ist den Eigentümern ein notwendiges Übel.« J. G. Fichte, Die Staatslehre, Ausgewählte Werke, Bd. 6, ed. Medicus, Darmstadt 1962, S. 454. Entsprechend heißt es bei Marx: »Die politische Verfassung in ihrer höchsten Spitze ist (…) die Verfassung des Privateigentums.« K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 303. Der sowjetische Rechtstheoretiker Stučka konstatiert: »Nach unserer Auffassung werden alle übrigen Rechtseinrichtungen nur geschaffen, um das Privatrecht zu schützen.« P. I. Stučka, Die revolutionäre Rolle von Recht und Staat, Frankfurt 1969, S. 72. Und Radbruch schreibt: »Für den Liberalismus ist das Privatrecht die Herzkammer allen Rechts, das öffentliche Recht ein schmaler schützender Rahmen, der sich um das Privatrecht und vor allem um das Privateigentum legt.« G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 19636, S. 226.
4 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1, Darmstadt 1959, S. 53.
4a G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Moldenhauer/Michel, Frankfurt 1970, § 183.
5 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 101.
6 G. W. F. Hegel, a. a. O. (Anm. 4a), § 182 Zusatz.
7 F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt (M.) 1967, S. 40.
8 In einem Rescript Friedrich II. aus dem Jahre 1784 heißt es: »Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche, sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekanntzumachen oder durch den Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.« O. Groth, Die Zeitung Bd. 1, Berlin/Leipzig 1928, S. 623, zit. nach J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit,