Candide. Voltaire

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Candide - Voltaire


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man großzügig den Schlosspark nannte. Plötzlich gewahrte sie hinter Büschen den Doktor Pangloss und die Kammerjungfer ihrer Mutter. Der Magister erteilte gerade der Zofe, einem brünetten Frauenzimmerchen – ausgesprochen niedlich und ausgesprochen lernwillig – eine Lektion in angewandter Physik. Fräulein Kunigunde interessierte sich lebhaft für die Naturwissenschaften; also muckste sie sich nicht und beobachtete gespannt, wie der Lehrmeister sein Experiment mehrfach vorführte. Ohne Mühe erkannte sie den zureichenden Grund des Doktors und das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Nach einer Weile wandte sie sich ab und kehrte heim, nun ganz aufgewühlt, ganz in Gedanken versunken und ganz erfüllt von dem Wunsche, auch einmal solche Gelehrsamkeit zu erreichen. Wer weiß, meinte sie zu sich, vielleicht könnte sie des jungen Candides zureichender Grund werden und er seinerseits der ihre.

      Als sie zurück zum Schlosse ging, traf sie Candide und errötete; Candide errötete nicht minder. Sie entbot ihm einen verlegenen Gruß, ihre Stimme bebte; Candide schwatzte mit ihr ein paar Worte, ohne genau zu wissen, was er redete. Am folgenden Tage dann, kurz nach Tisch, begegneten sich Kunigunde und Candide wie zufällig hinter einem Wandschirm. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen, Candide hob es auf. In aller Unschuld fasste sie seine Hand, und in aller Unschuld küsste der junge Mann die Hand der jungen Dame – lebhaft, innig und mit bemerkenswerter Anmut. Lippen fanden einander; Augen erglühten; Knie wankten; Hände verirrten sich. Just in dem Moment ging Baron Thundertentronckh an dem Wandschirm vorbei und blickte dahinter; kaum hatte er Ursache und Wirkung erfasst, jagte er Candide auch schon mit wuchtigen Tritten in den Hintern aus dem Schlosse. Kunigunde sank in Ohnmacht; als sie wieder zu sich kam, erhielt sie ein paar Maulschellen von der Frau Baronin. Und es herrschten Betroffenheit und Bestürzung im schönsten und lieblichsten aller möglichen Schlösser.

      ZWEITES KAPITEL

       Wie es Candide bei den Bulgaren ergeht

      Aus seinem irdischen Paradiese vertrieben, lief Candide eine ganze Weile ziellos umher. Er weinte und hob immer wieder die Augen zum Himmel, wenn er sie nicht gerade zu jenem schönsten aller Schlösser zurückschweifen ließ, das die schönste aller Baronessen beherbergte. Schließlich musste er sich, ohne Abendbrot natürlich, irgendwo auf den Feldern in eine Ackerfurche zum Schlafen legen. Die ganze Nacht schneite es dicke Flocken. Als der Morgen dämmerte, schleppte sich Candide, völlig durchgefroren, zur benachbarten Stadt Waldberghofftrarbkdickdorff. Ohne einen roten Heller in der Tasche und halbtot vor Hunger und Erschöpfung, blieb er endlich auf der Schwelle eines Wirtshauses stehen. Zwei Männer in blauer Uniform beobachteten ihn. »Schau mal den Burschen da, Kamerad«, sagte der eine, »gerade gewachsen wie ein Rohr, und die Größe stimmt auch.« Sie traten auf Candide zu und luden ihn höflich zum Essen ein. »Meine Herren«, entgegnete Candide mit rührender Bescheidenheit, »Euer Angebot ehrt mich wirklich sehr, bloß ich fürchte, ich könnte meine Zeche nicht bezahlen.« – »Aber, aber, lieber Freund«, erwiderte einer der Blauen, »Leute mit Eurer Figur und Euren Gaben brauchen nicht zu zahlen. Ihr messt doch so etwa fünf Fuß fünf Zoll?« – »Ja richtig, gut geschätzt«, sagte Candide und verbeugte sich dezent. »Dann schleunigst zu Tische, mein Herr! Wir werden Euch nicht allein diesmal freihalten; wir sorgen auch dafür, dass es einem Manne wie Euch nie wieder am Gelde fehlt. Es ist doch höchste Pflicht der Menschen, einander zu helfen.« – »Ganz recht«, unterstrich Candide; »dies hat mir mein Lehrer, Meister Pangloss, auch immer gesagt. Und dass alles aufs beste eingerichtet sei, was ich hier ja schönstens bestätigt finde.« Die Blauen gaben ihm sogar noch zusätzlich ein paar Taler; Candide steckte sie ein und wollte den beiden einen Schuldschein schreiben; davon wollten jedoch sie nichts wissen. Also speiste man. Schließlich begann einer der beiden: »Ihr liebt doch zweifellos heiß und innig …« – »O ja«, antwortete Candide, »ich liebe heiß und innig Fräulein Kunigunde!« – »Aha«, entgegnete der Frager, »und den König der Bulgaren? Liebt Ihr den nicht auch heiß und innig?« – »I woher«, gab Candide zurück, »den kenne ich ja gar nicht.« – »Nein? Er ist der sympathischste aller Könige! Kommt, wir müssen auf sein Wohl trinken!« – »Dies von Herzen gern, meine Herren«, willigte Candide ein und trank. Kaum hatte er geleert, hieß es: »So, das reicht. Jetzt seid Ihr der Schutz und Schirm, der Retter und Held der Bulgaren. Euer Glück ist gemacht, Eurem Ruhm steht nichts mehr im Wege.« Auf der Stelle legte man ihn in Eisen und brachte ihn zum Regiment. Dort lehrte man ihn links um, rechts um, Gewehr über, Gewehr ab, legt an, Feuer, im Laufschritt marsch und verabfolgte ihm dreißig Stockschläge. Am nächsten Tag machte er seine Sache schon nicht mehr ganz so schlecht, und er bekam nur zwanzig Hiebe, am übernächsten Tag sogar nur zehn, weshalb ihn seine Kameraden wie ein Wundertier bestaunten.

      Candide verwirrte dies alles gewaltig; er begriff noch gar nicht recht, wieso er jetzt plötzlich ein Held sein sollte. Eines schönen Frühlingsmorgens kam ihm in den Sinn, spazieren zu gehen, einfach so geradeaus ohne ein bestimmtes Ziel, denn er glaubte, es sei das verbriefte Recht der Menschen wie der Tiere, sich ihrer Beine nach Belieben zu bedienen. Er war noch keine zwei Meilen gelaufen, da holten ihn vier andere Helden ein, banden ihn und warfen ihn ins Loch. Das Kriegsgericht fragte ihn, was ihm lieber sei: sechsunddreißig Mal Spießruten laufen durchs ganze Regiment oder zwölf Bleikugeln zugleich in den Schädel. Nun konnte Candide den Herren noch so ausführlich erklären, des Menschen Wille sei frei, und er wolle weder das eine noch das andere; es half nichts, er musste sich entscheiden. Und so entschloss er sich denn kraft der Gottesgabe, die da ›Willensfreiheit‹ heißt, für sechsunddreißig Mal Spießrutenlaufen. Er schaffte zwei Durchgänge. Das Regiment bestand aus zweitausend Soldaten; macht viertausend Hiebe. Vom Nacken bis zum Hintern lagen bereits alle Muskeln und Sehnen bloß. Als man sich zum dritten Lauf rüstete, konnte Candide nicht mehr und bat um die Gnade, ihm dann doch lieber das Haupt zu zerschmettern. Die Gunst wurde ihm gewährt. Man verband ihm die Augen und hieß ihn niederknien. Just in diesem Moment kam der König der Bulgaren vorbei. Er blieb stehen und fragte, welches Verbrechen der arme Sünder begangen habe. Nun war der König ein Mann von bedeutendem Geiste, und aus allem, was man ihm über Candide berichtete, erkannte er rasch, dass er da einen jungen Metaphysiker vor sich hatte, noch völlig unerfahren in den Dingen der Welt. Er begnadigte ihn also – eine Milde, die alle Journale und Chroniken sämtlicher Jahrhunderte rühmen und preisen werden. Ein braver Feldscher kurierte Candide in drei Wochen mit dermatologischen Mitteln aus den klassischen Rezeptbüchern des Dioskorides. Die Haut war bereits etwas nachgewachsen, und marschieren konnte er auch schon wieder leidlich, als der König der Bulgaren dem König der Avaren eine Schlacht lieferte.

      DRITTES KAPITEL

       Wie Candide den Bulgaren entkommt und was ihm weiter geschieht

      Was Prächtigkeit der Ausrüstung, Gewandtheit im Kampfe, brillante Strategie und wohlgeordnete Disziplin betraf, konnte diesen beiden Armeen keine andere etwas vormachen. Ihre Trompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen vollführten ein Konzert, wie man es so harmonisch selbst in der Hölle kaum hören dürfte. Zunächst rissen die Kanonen auf jeder Seite etwa sechstausend Mann um; dann befreite das Feuer der Musketen die beste aller Welten von neun- bis zehntausend Halunken, die bis dahin ihre Oberfläche verpestet hatten. Und auch das Bajonett wurde zureichender Grund, dass etliche tausend Leute ihr Leben ließen. Der Gesamtverlust belief sich sage und schreibe auf dreißigtausend Seelen. Candide zitterte während dieser heroischen Metzelei wie ein Philosoph und versteckte sich, so gut er konnte.

      Endlich war die Schlacht vorbei, und jeder der beiden Könige hieß in seinem Lager das Tedeum anstimmen. Candide entschied sich derweil, lieber woanders über Ursachen und Wirkungen nachzudenken, und zog weiter. Er kletterte über Berge von Toten und Sterbenden und kam ins nächste Dorf. Es lag in Schutt und Asche, denn es war avarisch; die Bulgaren hatten, dem Kriegsrecht getreu, den roten Hahn flattern lassen. Greise mussten, von Kugeln durchsiebt, hilflos mit anschauen, wie ihre niedergestochenen Frauen und Töchter starben, die ihre Kinder noch an die blutenden Brüste gepresst hielten. Junge Mädchen, die kurz zuvor noch die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden befriedigt hatten, hauchten aufgeschlitzten Leibes ihren letzten Seufzer. Anderen Frauen wiederum war der halbe Körper verbrannt, und sie flehten schreiend, dass man sie vollends töte. Zwischen abgerissenen Armen und Beinen bedeckte verspritztes Gehirn den Boden.


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