Mechanik. Michael Schulz
Читать онлайн книгу.kennt man zu jedem Zeitpunkt seine Lage im Raum und möchte daraus gewisse Eigenschaften über den Charakter der Bewegung ableiten. Wir können die Aufgabe der Kinematik wie folgt beschreiben: Aus einer gegebenen Bahnkurve r(t) eines Massenpunktes, der Trajektorie, die in einem physikalischen Raum eingebettet ist, sollen charakteristische Größen der Bewegung des Massenpunktes abgeleitet werden. Bei kinematischen Problemen wird die physikalische Ursache der Bewegung nicht vorausgesetzt, sondern vielmehr durch Analyse der Bahnkurven erkundet. Daher spielen Kräfte in der Kinematik nur eine sekundäre Rolle. Sie sind, wenn überhaupt, als mit den Beschleunigungen verbundene Größen höchstens das Ziel kinematischer Untersuchungen, nicht aber deren Ausgangspunkt. Dem Kraftbegriff kommt erst im Rahmen der im nächsten Kapitel behandelten Dynamik von Massenpunkten eine zentrale Bedeutung zu.
Kinematische Untersuchungen spielen in vielen Bereichen der Mechanik eine bedeutende Rolle. In der Astrophysik nutzt man z. B. kinematische Methoden um die Masse verborgener Gravitationszentren (schwarze Löcher, durch Staub verdeckte Sterne) aus der Bewegung der umgebenden kosmischen Körper zu bestimmen. Auf einer ganz anderen Skala werden im Rahmen der Maschinenüberwachung kinematische Methoden genutzt, um aus den Bahnkurven ausgewählter Punkte von beweglichen Bauteilen auf Belastungen und Störkräfte zu schließen.
2.1 Grundbegriffe der Kinematik
2.1.1 Bezugssystem und Räume
Wenn wir die Bahn eines Massenpunktes beschreiben wollen, müssen wir zu jedem Zeitpunkt seine Lage in Bezug auf einen anderen Körper oder einen geeigneten Punkt angeben. Als Bezugspunkt können wir beispielsweise die Ecke eines Labors nehmen. Dann können wir die betreffende Ecke als Ursprung O eines kartesischen Koordinatensystems definieren und die drei zugehörigen Kanten als die durch diesen Anfangspunkt laufenden, zueinander senkrecht stehenden Koordinatenachsen der X-, Y - und Z-Richtung ansehen (vgl. Abb. 2.1). Die Lage eines beliebigen Punktes P ist dann festgelegt durch die Angabe der drei kartesischen Koordinaten (x, y, z). Diese drei Koordinaten sind gerade die Komponenten des Vektors
= r. Die Bahnkurve des Massenpunktes ist festgelegt, wenn wir die Komponendes Ortsvektors r(t) zu jeder Zeit kennen(2.1)
Abb. 2.1 Darstellung eines Ortsvektors in einem kartesischen Koordinatensystem.
In dieser Darstellung wird der Ortsvektor ausschließlich durch das Tupel der der Koordinaten beschrieben. Das ist natürlich nur dann eindeutig, wenn die Basisvektoren des Koordinatensystems bekannt sind,1) siehe auch (2.13). Wir wollen hier zunächst festhalten, dass die Bahn eines Massenpunktes unabhängig vom benutzten Koordinatensystem ist. Hätten wir ein anderes Bezugssystem gewählt, dann bliebe die Trajektorie des Massenpunktes nach wie vor unverändert, obwohl sich ihre mathematische Darstellung in Form der Komponenten des Ortsvektors r(t) geändert hat.
Es handelt sich dabei um ein grundlegendes Prinzip der Physik. Die objektive Realität – hier die Bahnkurve – ist unabhängig vom Beobachter und damit von der subjektiv gewählten Darstellung – hier der Beschreibung der Trajektorie in einem willkürlich gewählten Koordinatensystem.
Neben dem Koordinatensystem spielt der jeweilige Raum, in dem das physikalische Problem eingebettet ist, eine große Rolle. Der Standardraum der klassischen Mechanik ist der dreidimensionale euklidische Raum. Solange wir nichts anderes vereinbaren, wollen wir in Zukunft diesen Raum voraussetzen.
2.1.2 Weglänge, Verrückung, Geschwindigkeit
Wenn ein Massenpunkt sich entlang seiner Bahnkurve bewegt (vgl. Abb. 2.2), dann wird er zu einer gewissen Zeit t den Punkt P mit dem Ortsvektor r(t) erreicht haben und sich zu einem etwas späteren Zeitpunkt t′ = t + Δt bei P′ mit dem Ortsvektor r(t + Δt) = r(t) + Δr befinden. Während seiner Bewegung durchläuft der Massenpunkt den Bogen
. Diese Bogenlänge(2.2)
nennt man den im Zeitintervall Δt zurückgelegten Weg. Der Vektor
(2.3)
ist dagegen die im Zeitintervall Δt erfolgte Verschiebung oder Verrückung. Die Geschwindigkeit υ des Massenpunktes ist durch den folgenden Grenzwert definiert:
(2.4)
Aus der Kenntnis der Abhängigkeit der Geschwindigkeit von der Zeit kann der während des endlichen Zeitintervalls Δt zurückgelegte Weg berechnet werden. Sind die beiden Punkte nur infinitesimal weit voneinander entfernt, dann gilt
Hat der Weg zwischen den beiden Punkten P und P′ eine endliche Länge, dann ist diese gerade die Summe aller aufeinanderfolgenden, zurückgelegten infinitesimalen Wegstrecken
Abb. 2.2 Verrückung Δr entlang einer Bahnkurve zwischen den Punkten P und P′.
Dagegen ist die Verrückung im Zeitintervall Δt einfach durch das Integral
(2.8)
gegeben. In euklidischen Räumen ist der zwischen den Punkten P und P′ zurückgelegte Weg Δs nie kleiner als die direkte Distanz |Δr| zwischen beiden Punkten,
(2.9)
Für |υ(t)| ≠ 0 kann neben der Zeit t die Bogenlänge s als eine alternative Größe zur Parametrisierung der Bahnkurve verwendet werden. Wir können also schreiben
(2.10)
wobei der Index b bedeutet, dass die Bahnkurve als Funktion der Bogenlänge (und nicht der Zeit) zu verstehen ist. Während die Abhängigkeit der Bahnkurve von der Bogenlänge die differentialgeometrischen Aspekte betont, entspricht die Darstellung der