Meine europäische Familie. Karin Bojs
Читать онлайн книгу.Die Jagd auf große Säugetiere war oft gefährlich und anstrengend. Das schafften nur starke, gesunde Menschen. Aber Netze auslegen und einholen konnten auch schwächere, ältere oder behinderte Personen.
Die Kunst des Fischens und der Jagd auf Hasen und Vögel könnte also durchaus für unser Überleben in Europa entscheidend gewesen sein.
Vielleicht setzten wir uns gegen die Neandertaler mit effektiveren Jagdmethoden durch. Womöglich erschlugen wir sie auch einfach, wenn sich die Gelegenheit bot. Ich glaube, Jean-Jacques Hublin hat recht mit seiner These, dass den Klimaveränderungen und Nähnadeln nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommt, während Sprache, Kunst, Musik und größere soziale Netzwerke den Ausschlag gaben.
Dass die Neandertaler schon während der letzten Eiszeit, bevor wir auftauchten, stark in Bedrängnis geraten waren, begünstigte uns sicher zusätzlich.
Einige DNA-Untersuchungen belegen, dass die Neandertaler vor ihrem Ende massiv von Inzucht geprägt waren. Ein Neandertalerjunge in der Denisovahöhle im südlichen Sibirien wies eine so geringe genetische Variation auf, dass seine Eltern Halbgeschwister gewesen sein oder zumindest einen ähnlichen Verwandtschaftsgrad aufgewiesen haben müssen. Zusätzlich müssen die Eltern ihrerseits das Resultat vieler Generationen von Inzucht in einer kleinen, in sich geschlossenen Gruppe gewesen sein. Einer schwedischen Studie zufolge lebten zum Schluss in ganz Europa nur noch ein paar Tausend Neandertaler. Ihre Anzahl verminderte sich vor ungefähr 50.000 Jahren signifikant – das verrät die abnehmende Variationsbreite ihrer DNA.
Die Ankunft des modernen Menschen, die Kälteperiode sowie der Vulkanausbruch in Italien wären demnach die Sargnägel für eine bereits stark gefährdete Gruppe gewesen.
Einige Forscher vertraten früher beharrlich die Ansicht, dass die Neandertaler durchaus die mentalen Kapazitäten besessen hätten, um ihre neue Kultur aus eigener Kraft zu entwickeln. Diese Überzeugung wird heutzutage immer seltener geäußert. Es ist unübersehbar, dass die Neandertaler mehrere Hunderttausend Jahre lang auf ziemlich gleichbleibende Weise in Europa lebten, um dann ihre Gewohnheiten plötzlich zu ändern, als Menschen unseres Schlages auf der Bildfläche erschienen.
Die Autorin Jean M. Auel beschreibt in ihren Bestsellerromanen, wie das Steinzeitmädchen Ayla, das aus der Gruppe der modernen Menschen stammt, bei Neandertalern aufwächst. Es ist nicht auszuschließen, dass in der Realität Ähnliches vorgekommen ist. Einzelne Individuen könnten zur jeweils anderen Gruppe gewechselt sein und dabei Kenntnisse und Traditionen mitgenommen haben. Schließlich belegen die genetischen Befunde, dass Neandertaler und moderne Menschen im Nahen Osten gemeinsame Kinder hatten.
Das Gleiche gilt übrigens auch für Europa. Einige Anthropologen sind schon seit Langem überzeugt, dass einzelne Skelette deutliche anatomische Merkmale sowohl von Neandertalern als auch von modernen Menschen aufweisen. Das belegen zum Beispiel zwei Funde aus der Höhle Peştera cu Oase im heutigen Rumänien – der Schädel eines 15-Jährigen und der Unterkiefer einer erwachsenen Person. Letzterer wurde mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von ungefähr 40.000 Jahren datiert.
Im Frühjahr 2015 gelang Svante Pääbo und seinen Mitarbeitern der Nachweis, dass der Unterkiefer tatsächlich ziemlich große Mengen Neandertaler-DNA enthält, und zwar zwischen fünf und elf Prozent des gesamten Erbguts. Außerdem scheint das Erbe der Neandertaler nur vier bis fünf Generationen zurückzuliegen, da die DNA in langen, ungebrochenen Sequenzen vorliegt. Das Individuum in Peştera cu Oase hatte also einen Neandertaler zum Ur-Ur-Großvater oder in einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad.
Im Erbgut von uns heutigen Europäern sind allerdings davon keine Spuren mehr zu entdecken.
Nachdem moderne Menschen mit Neandertalern gemeinsame Kinder bekommen hatten, müssen ihre Nachkommen also ausgestorben sein. Sicher nachweisen kann die Wissenschaft nur Kreuzungen, die irgendwo im Nahen Osten vor ungefähr 54.000 Jahren stattgefunden haben, sowie eine weitere in Asien.
Die Neandertaler hatten größere Gehirne als wir und sie waren definitiv keine Dummköpfe. Sie waren gute Jäger und standen uns in puncto Geschicklichkeit in vielerlei Hinsicht nicht nach. Ihre Steinwerkzeuge waren symmetrisch und funktionell. Die Herstellung solcher Werkzeuge zu erlernen, ist extrem schwierig, wie mir Archäologiestudenten versicherten. Offensichtlich besaßen die Neandertaler auch die Fähigkeit, ihre Technik weiterzuentwickeln, selbst wenn es durch Nachahmung von uns geschah.
Bis heute gibt es allerdings keine glaubhaften Beweise dafür, dass sie Kunstwerke schufen und Musikinstrumente verwendeten. Vermutlich konnten sie nicht in gleichem Maße in Symbolen denken wie wir. Sie hatten zwar ganz offensichtlich ein Gefühl für Symmetrie, jedoch nicht für Kunst und Ästhetik nach unseren Maßstäben.
Es war ein Aha-Erlebnis für mich, als Jean-Jacques Hublin den Unterschied zwischen Symmetrie und Ästhetik erwähnte. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Teenager in einer Konditorei arbeitete und das Dekorieren von Torten und Gebäck erlernte. Fast alle Anfänger machen den gleichen Fehler – sie versuchen, völlig symmetrische Muster zu schaffen. Doch als ich es wagte, die Symmetrie zu durchbrechen, wurden die Torten viel schöner. Könnte das bewusste Durchbrechen der Symmetrie einer der Schlüssel zur Einzigartigkeit des Menschlichen sein?
Ich glaube wie Jean-Jacques Hublin, dass uns moderne Menschen eine Mitschuld daran trifft, dass die Neandertaler ausstarben. Über die moralische Schuld lässt sich streiten, obwohl sie hoffentlich mittlerweile verjährt ist. Die Neandertaler waren ja immerhin Menschen, wenn auch nicht wesensgleich mit uns. Ist ihr Tod mit der Ausrottung einer Tierart zu vergleichen? Oder eher mit einem Völkermord?
In jedem Fall sollten wir uns hüten, auf die Neandertaler herabzuschauen. Sie haben in Europa viel länger überlebt, als wir es bisher getan haben. Sie existierten hier mindestens ein paar Hunderttausend Jahre, und wenn man ihre Vorgänger mitberücksichtigt – die zuweilen Homo heidelbergensis genannt werden –, sprechen wir von mehr als vierhunderttausend Jahren.
Allein die Kultur des Aurignacien prägte Europa circa zehntausend Jahre lang. So lange hatte kein aus historischer Zeit bekanntes Reich Bestand. Doch dann rollte eine neue Einwanderungswelle auf den Kontinent zu.
DIE MAMMUTS IN BRÜNN
Die Stadt Brünn (Brno) in Tschechien ist ein klassisches Ziel für alle an Gentechnik Interessierten. Ich bin früher schon einmal hier gewesen, unter anderem, um eine Reportage über den Mönch Gregor Mendel zu schreiben. Er erbrachte in den 1860er-Jahren den Nachweis, dass Merkmale durch voneinander abgegrenzte Einheiten vererbt werden – diese Einheiten nennen wir heute Gene. Das Kloster, in dem Mendel arbeitete, existiert noch. Nachdem es in der kommunistischen Ära ein Schattendasein führte, ist es jetzt restauriert worden. Kloster waren bei den Kommunisten nicht gern gesehen und auch die biologische Wissenschaft wurde mit Argwohn betrachtet – besonders während der Herrschaft von Josef Stalin in der Sowjetunion. Vor allem die als kontrarevolutionär und bürgerlich erachtete Genetik war tabu.
Als ich Brünn jetzt wieder besuche, schaue ich noch einmal im Augustinerkloster und im Museum zu Mendels Leben und Werk vorbei. Einige blühende Erbsen ranken vor dem Eingang. Mendel führte seine Versuche an Erbsenpflanzen durch, denn sie waren praktisch und pflegeleicht. Er säte und rechnete, säte und rechnete. Gelbe Erbsen, grüne Erbsen, rote Blüten, weiße Blüten, hohe Pflanzen, niedrige Pflanzen … Auf der Basis sieben verschiedener Eigenschaften der Erbse formulierte er seine Vererbungsgesetze und beschrieb dominante und rezessive Merkmale.
Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis Gregor Mendels Erkenntnisse über die Stadt Brünn hinaus bekannt wurden. Als man sie dann schließlich anwandte, revolutionierten sie die Pflanzenveredelung, die Tierzucht und fast die gesamte biologische Wissenschaft. Leider sind Mendels Ergebnisse teils falsch interpretiert worden. Heute wissen wir, dass Vererbung selten so simpel ist wie bei seinen grünen und gelben Erbsen. Bei den meisten Merkmalen verläuft sie deutlich komplizierter und wird sowohl von vielen unterschiedlichen Genen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst.
Nach meinem Besuch im Mendelmuseum fahre ich mit der Straßenbahn einige Haltestellen stadtauswärts. Dieses Mal bin ich nach Brünn gekommen, um mehr über jene große