Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich  Glauser


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      Eigentlich war eine derartige Behauptung eine Frechheit. Aber so ehrerbietig war Studers Stimme, so zwingend heischte sie Bejahung, dass dem Herrn mit dem wappengeschmückten Siegelring nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken.

      Mit braunem Holz waren die Wände des Raumes getäfelt, und da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren, schimmerte die Luft wie dunkles Gold.

      »Die Akten des Falles«, sagte der Untersuchungsrichter ein wenig unsicher. »Die Akten des Falles … Ich habe noch nicht recht Zeit gehabt, mich mit ihnen zu beschäftigen … Warten Sie …«

      Rechts von ihm waren fünf Aktenbündel übereinander geschichtet. Das unterste, das dünnste, war das richtige. Auf dem blauen Kartondeckel stand:

      SCHLUMPF ERWIN

       MORD

      »Leider«, sagte Studer und machte ein unschuldiges Gesicht. »Leider hat man in letzter Zeit ziemlich viel von mangelhaft geführten Untersuchungen gehört. Und da wäre es vielleicht besser, wenn man sich auch bei einem so klaren Fall mit den notwendigen Kautelen umgeben würde …«

      Innerlich grinste er: Kommst du mir mit Kompetenz, komm ich dir mit Kautelen.

      Der Untersuchungsrichter nickte. Er hatte eine Hornbrille aus einem Futteral gezogen, sie auf die Nase gesetzt. Jetzt sah er aus wie ein trauriger Filmkomiker.

      »Gewiss, gewiss, Wachtmeister. Sie müssen nur bedenken, es ist meine erste schwere Untersuchung, und da wird mir natürlich Ihre Kompetenz in diesen Angelegenheiten …«

      Weiter kam er nicht. Studer hob abwehrend die Hand.

      Aber der Untersuchungsrichter beachtete die Bewegung nicht. Er hatte zwei Fotografien in der Hand und reichte sie über den Tisch:

      »Aufnahmen des Tatortes …«, sagte er.

      Studer betrachtete die Bilder. Sie waren nicht schlecht, obwohl sie von keinem kriminologisch geschulten Fachmann aufgenommen worden waren. Auf beiden sah man das Unterholz eines Tannenwaldes und auf dem Boden, der mit dürren Nadeln übersät war – die Bilder waren sehr scharf –, lag eine dunkle Gestalt auf dem Bauch. Rechts am kahlen Hinterkopf, schätzungsweise drei Finger breit von der Ohrmuschel, gerade über einem dünnen Haarkranz, der zum Teil den Rockkragen bedeckte, war ein dunkles Loch zu sehen. Es sah ziemlich abstoßend aus. Aber Studer war an solche Bilder gewöhnt. Er fragte nur:

      »Taschen leer?«

      »Warten Sie, ich habe hier den Rapport vom Landjägerkorporal Murmann …«

      »Ah«, unterbrach Studer, »der Murmann ist in Gerzenstein. So, so!«

      »Kennen Sie ihn?«

      »Doch, doch. Ein Kollege. Hab ihn aber schon viele Jahre nicht gesehen. Was schreibt der Murmann?«

      Der Untersuchungsrichter drehte das Blatt um, dann murmelte er halbe Sätze vor sich hin. Studer verstand:

      »… männliche Leiche auf dem Bauche liegend … Einschuss hinter dem rechten Ohr … Kugel im Kopf stecken geblieben … wahrscheinlich aus einem 6,5 Browning …«

      »In Waffen kennt er sich aus, der Murmann!« bemerkte Studer.

      »… Taschen leer …«, sagte der Untersuchungsrichter.

      »Was?« ganz scharf die Frage. »Haben Sie zufällig eine Lupe?« Alle Höflichkeit war aus Studers Stimme verschwunden.

      »Eine Lupe? Ja. Warten Sie. Hier …«

      Ein paar Augenblicke war es still. Durch einen Spalt der Fensterläden fiel ein Sonnenstrahl gerade auf Studers Haar. Schweigend betrachtete der Untersuchungsrichter den Mann, der da vor ihm hockte, den breiten, runden Rücken und die grauen Haare, die glänzten, wie das Fell eines Apfelschimmels.

      »Das ist lustig«, sagte Wachtmeister Studer mit leiser Stimme. (Was, zum Teufel, ist an der Fotografie eines Ermordeten lustig! dachte der Untersuchungsrichter.) »Der Rock ist ja ganz sauber auf dem Rücken …«

      »Sauber auf dem Rücken? Ja, und?«

      »Und die Taschen sind leer«, sagte Studer kurz, als sei damit alles erklärt.

      »Ich versteh’ nicht …« Der Untersuchungsrichter nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch.

      »Wenn …«, sagte Studer und tippte mit der Lupe auf die Aufnahme. »Wenn Sie sich vorstellen, dass der Mann hier im Walde meuchlings überfallen worden ist, dass ihn einer von hinten niedergeschossen hat, so geht aus der Lage der Leiche hervor, dass der Mann vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber seine Taschen sind leer. Wann hat man die Taschen geleert?«

      »Der Angreifer hätte den Witschi zwingen können, die Brieftasche auszuliefern …«

      »Nicht sehr wahrscheinlich … Was sagt das Sektionsprotokoll, wann der Tod mutmaßlich eingetreten ist?«

      Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, eifrig, wie ein Schüler, der gerne vom Lehrer eine gute Note bekommen möchte. Merkwürdig, wie schnell die Rollen sich vertauscht hatten. Studer hockte immer noch auf dem unbequemen Stuhl, der sicherlich sonst für die vorgeführten Häftlinge bestimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hätte …

      »Das Sektionsprotokoll«, sagte der Untersuchungsrichter jetzt, räusperte sich trocken, rückte an seiner Brille und las: »Zertrümmerung des Occipitalknochens … Mesencephalum … steckengeblieben in der Gegend des linken … Aber das wollen Sie ja alles nicht wissen … Hier … Tod approximativ zehn Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten … Das wollten Sie wissen, Wachtmeister? Aufgefunden ist die Leiche zwischen halb acht und viertel vor acht Uhr morgens von Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger … Der Mord wäre also ungefähr um zehn Uhr abends verübt worden.«

      »Zehn Uhr? Gut. Wie stellen Sie sich die Szene vor? Der alte Witschi kommt von einer Tour zurück, er fährt mit seinem Zehnder ruhig nach Hause. Plötzlich wird er angehalten … Schon da ist vieles nicht klar. Warum steigt er ab? Hat er Angst? … Nehmen wir an, er sei angehalten worden. Gut, er wird gezwungen, seinen Karren an einen Baum zu lehnen, man treibt ihn in den Wald … Warum nimmt ihm der Angreifer nicht auf der Straße die Brieftasche fort und drückt sich? … Nein! Er zwingt den Witschi, mit ihm hundert Meter – es waren doch hundert Meter? – in den Wald zu gehen. Schießt ihn von hinten nieder. Der Mann fällt auf den Bauch … Wollen Sie mir sagen, Herr Untersuchungsrichter, wann ihm die Brieftasche mit den verschwundenen dreihundert Franken aus der Tasche genommen worden ist?«

      »Brieftasche? Dreihundert Franken? Warten Sie, Wachtmeister. Ich muss mich zuerst orientieren …«

      Stille. Eine Fliege summte dröhnend. Studer hatte sich kaum bewegt, sein Kopf blieb gesenkt.

      »Sie haben recht … Frau Witschi gibt an, ihr Mann habe am Morgen zu ihr gesagt, er werde wahrscheinlich am Abend hundertfünfzig Franken mitbringen. Es seien Rechnungen fällig. Hundertfünfzig Franken habe er noch besessen … Telefonische Erkundigungen haben ergeben, dass wirklich zwei Kunden des Witschi ihre Rechnungen bezahlt haben. Die eine Rechnung betrug hundert Franken, die andere fünfzig …«

      »Die eine hundert und die andere fünfzig? Merkwürdig …«

      »Warum merkwürdig?«

      »Weil der Schlumpf drei Hunderternoten in seinem Besitz gehabt hat. Eine, die er im ›Bären‹ gewechselt hat, und zwei, die ich ihm abgenommen habe. Wo ist die Brieftasche hingekommen?«

      »Sie haben recht, Wachtmeister. Der Fall hat einige dunkle Punkte …«

      »Dunkle Punkte!« Studer zuckte die Achseln.

      Ein ungemütlicher Mann, dachte der Untersuchungsrichter. Er war nervös wie seinerzeit beim Staatsexamen. Vielleicht war dieser Wachtmeister für Schmeichelei empfänglich


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