In der Sommerfrische. Anton Tschechow

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In der Sommerfrische - Anton Tschechow


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endete so:

      »Der Prinz wurde vom Rauchen schwindsüchtig und starb, als er erst zwanzig Jahre alt war. Der kranke, alte Vater blieb ohne jede Hilfe. Es war niemand da, um das Königreich zu regieren und das Schloss zu verteidigen. Da kamen die Feinde, töteten den Alten, zerstörten das Schloss, und jetzt gibt es im Garten weder die Kirschbäume, noch die Vögel, noch die Glasglocken. Ja, so ist’s, mein Lieber …«

      Dieser Schluss kam Jewgenij Petrowitsch selbst lächerlich und naiv vor, aber auf Serjoscha machte das Märchen einen starken Eindruck. Seine Augen waren wieder von Trauer und etwas wie Entsetzen verschleiert; er blickte eine Weile auf das dunkle Fenster, fuhr dann zusammen und sagte mit verzagter Stimme:

      »Ich werde nicht mehr rauchen …«

      Als er sich verabschiedet hatte und gegangen war, ging sein Vater langsam auf und ab und lächelte.

      – Man wird sagen, dass es die schöne künstlerische Form war, was auf ihn diesen Eindruck machte, – dachte er sich: – meinetwegen, aber das ist kein Trost. Das ist trotz allem nicht das richtige Mittel … Warum müssen die Wahrheit und die Moral nicht in ihrer rohen Form, sondern unbedingt mit Beimischungen, wie die Pillen verzuckert und vergoldet, dargereicht werden? Das ist nicht normal … Fälschung, Betrug … Kunststücke … –

      Er dachte an die Geschworenen, denen man unbedingt eine »Rede« halten muss, an das große Publikum, das die Weltgeschichte nur aus Heldengesängen und historischen Romanen kennt, und an sich selbst, der er seine ganze Lebensauffassung nicht aus Predigten und Gesetzen, sondern aus Fabeln, Romanen und Gedichten geschöpft hatte …

      – Die Arznei muss süß sein, und die Wahrheit schön … Und das hat sich der Mensch seit Adams Zeiten eingeredet … Übrigens … vielleicht ist das auch natürlich und muss so sein … Gibt es denn in der Natur wenig zweckmäßige Täuschungen und Illusionen?

      Er machte sich an die Arbeit, aber die trägen, häuslichen Gedanken regten sich noch lange in seinem Kopfe. Die Tonleitern im zweiten Stock waren nicht mehr zu hören, doch der Bewohner des ersten Stocks ging noch immer auf und ab …

      Die Jungens

      »Wolodja ist gekommen!«, rief jemand auf dem Hofe. »Woloditschka ist gekommen!«, schrie Natalja, ins Esszimmer hereinlaufend.

      Die ganze Familie Koroljow, die ihren Wolodja von Stunde zu Stunde erwartete, stürzte zu den Fenstern. Vor der Haustür hielt ein breiter Schlitten, und vom weißen Dreigespann stieg dichter Nebel auf. Der Schlitten war leer, weil Wolodja schon im Flur stand und mit seinen roten, erfrorenen Fingern den Baschlyk aufband. Sein Gymnasiastenmantel, die Mütze, die Galoschen und die Haare auf seinen Schläfen waren mit Reif bedeckt, und er selbst duftete vom Kopf bis zu den Füßen so appetitlich nach Kälte, dass man, wenn man ihn ansah, den Wunsch hatte, einmal durchzufrieren und »brr!« zu rufen. Die Mutter und die Tante fielen über ihn her und fingen an, ihn zu küssen. Natalja kniete vor ihm nieder und zog ihm die Filzstiefel von den Füßen, die Schwestern kreischten, die Türen knarrten und klopften, und Wolodjas Vater lief in Hemdsärmeln, eine Schere in der Hand, in den Flur und rief erschrocken:

      »Wir hatten dich aber schon gestern erwartet! Bist du gut angekommen? Wohlbehalten? Du lieber Gott, lasst ihn doch den Vater begrüßen! Oder bin ich nicht sein Vater?«

      »Wau! Wau!«, brüllte im Bass Mylord, ein riesengroßer schwarzer Hund, mit dem Schwanz an die Wände und Möbel klopfend.

      Alles vermischte sich zu einem einzigen freudigen Laut, der an die zwei Minuten anhielt. Als der erste Freudenausbruch vorbei war, merkten die Koroljows, dass sich im Flur außer Wolodja noch ein anderer in Tücher, Schals und Baschlyks eingewickelter, mit Reif bedeckter kleiner Mann befand. Er stand unbeweglich in einer Ecke, im Schatten, den ein großer Fuchspelz warf.

      »Woloditschka, wer ist denn das?«, fragte die Mutter im Flüsterton.

      »Ach!«, erinnerte sich plötzlich Wolodja. »Ich habe die Ehre vorzustellen, es ist mein Freund Tschetschewizyn, Schüler der zweiten Klasse … Ich habe ihn als Gast mitgebracht.«

      »Sehr angenehm, ich heiße Sie willkommen!«, sagte der Vater erfreut. »Entschuldigen Sie, ich bin nicht angezogen, ohne Rock. Treten Sie doch näher! Natalja, hilf dem Herrn Tschetschewizyn aus dem Mantel! Mein Gott, jagt doch diesen Hund hinaus! Es ist eine Strafe Gottes!«

      Eine Weile später saßen Wolodja und sein Freund Tschetschewizyn, durch den stürmischen Empfang betäubt und noch immer rosig vor Kälte, am Tisch und tranken Tee. Die Wintersonne schien durch den Schnee und die Eisblumen an den Fenstern herein, zitterte auf dem Samowar und badete ihre reinen Strahlen im Spülnapf. Im Zimmer war es warm, und die Jungen fühlten, wie in ihren durchfrorenen Körpern, ohne einander nachzugeben, sich kitzelnd die Wärme und die Kälte regten.

      »Nun, bald haben wir Weihnachten!«, sagte in singendem Tonfalle der Vater, sich aus dunkelgelbem Tabak eine Zigarette drehend. »Und ist es lange her, dass wir Sommer hatten und die Mutter beim Abschied von dir weinte? Und jetzt bist du wieder da … Schnell vergeht die Zeit, mein Bester. Eh’ du dich versiehst, ist schon das Alter da. Herr Tschibissow, greifen Sie doch bitte zu, seien Sie ganz ungeniert! Bei uns geht es einfach zu.«

      Die drei Schwestern Wolodjas, Katja, Sonja und Mascha, – die älteste von ihnen war erst elf – saßen am Tisch und blickten unverwandt den neuen Bekannten an. Tschetschewizyn war ebenso alt und groß wie Wolodja, doch weniger voll und weiß; er war sehr schmächtig und hatte ein dunkles, sommersprossenbedecktes Gesicht. Seine Haare waren struppig, die Augen enggeschlitzt, die Lippen dick; er war überhaupt nicht schön, und wenn er nicht die Gymnasiastenuniform anhätte, könnte man ihn für den Sohn einer Köchin halten. Er blickte finster drein, schwieg die ganze Zeit und lächelte kein einziges Mal. Die Mädchen sagten sich gleich auf den ersten Blick, dass er ein sehr kluger und gelehrter Mann sein müsse. Er dachte die ganze Zeit über etwas nach und war so in seine Gedanken vertieft, dass er, wenn man an ihn irgendeine Frage richtete, zusammenfuhr, den Kopf schüttelte und um Wiederholung der Frage ersuchte.

      Die Mädchen merkten, dass auch Wolodja, der sonst immer so lustig und gesprächig gewesen war, diesmal sehr wenig sprach, gar nicht lächelte und gar nicht froh darüber zu sein schien, dass er nach Hause zurückgekehrt war. Während des Teetrinkens wandte er sich an die Schwestern nur ein einziges Mal, und zwar mit sehr seltsamen Worten. Er zeigte mit dem Finger auf den Samowar und sagte:

      »In Kalifornien trinkt man aber statt Tee – Gin.«

      Auch er schien mit irgendwelchen Gedanken beschäftigt, und nach den Blicken, die er zuweilen mit seinem Freunde Tschetschewizyn wechselte, zu schließen, hatten beide Jungen die gleichen Gedanken.

      Nach dem Tee gingen alle ins Kinderzimmer. Der Vater und die Mädchen setzten sich an den Tisch und machten sich wieder an die Arbeit, die durch die Ankunft der Jungen unterbrochen worden war. Sie fertigten aus Buntpapier Blumen und Fransen für den Weihnachtsbaum an. Die Arbeit war interessant, und es ging dabei recht laut zu. Die Mädchen begrüßten jede neu angefertigte Blume mit begeisterten Schreien, selbst mit Rufen des Entsetzens, als wäre die Blume vom Himmel gefallen; auch der Herr Papa geriet oft in Begeisterung und warf mitunter seine Schere zu Boden aus Ärger, dass sie stumpf sei. Die Mama stürzte ab und zu mit besorgtem Gesicht ins Kinderzimmer und fragte:

      »Wer hat meine Schere genommen? Iwan Nikolajitsch, hast du wieder meine Schere genommen?«

      »Du lieber Gott, selbst die Schere gönnt man einem nicht!«, antwortete Iwan Nikolajitsch mit weinerlicher Stimme. Er warf sich in die Stuhllehne zurück und nahm die Pose eines schwer gekränkten Menschen an; aber nach einer Minute war er schon wieder in heller Begeisterung.

      Bei seinen früheren Besuchen pflegte sich Wolodja an allen diesen Vorbereitungen zu beteiligen oder in den Hof zu laufen, um zuzusehen, wie der Kutscher und der Hirt den Schneeberg zum Rodeln machten; jetzt aber schenkte er, ebenso wie Tschetschewizyn dem Buntpapier nicht die geringste Beachtung; sie gingen sogar kein einziges Mal in den Pferdestall, sondern setzten sich gleich ans Fenster und begannen zu tuscheln.


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