Warum der freie Wille existiert. Christian List

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      „Wenn Sie ein Marsmensch wären, der heute auf der Erde landete und Information darüber sammelte, wie Menschen funktionieren, würden Sie nie auf die Idee des freien Willens kommen, wie er gewöhnlich in der Alltagspsychologie verstanden wird. Der Marsmensch würde erfahren, dass die Menschen Erkenntnisse über Physik, Chemie und Kausalität im üblichen Sinne erworben haben. Er wäre erstaunt, was für eine Menge von Informationen über die Funktionsweise von Zellen und Gehirnen sich da angesammelt hat. Und er käme zu dem Schluss ‚Okay, sie haben’s kapiert. Gehirne sind wunderbar komplexe Maschinen, ebenso wie Zellen. Ihre Wirkungsweise ist ziemlich cool, obwohl sie stark dazu neigen, zu glauben, dass in ihrem Kopf ein kleiner Kerl ist, der sagt, wo’s langgeht. Da ist aber niemand.‘“28

      Der Wissenschaftler vom Mars würde also zu dem Schluss kommen, dass alles, was Menschen tun, durch physikalische Vorgänge im Gehirn verursacht ist. Die Absichten des „kleinen Kerls im Kopf “ sind allenfalls ein Epiphänomen: Sie sagen nicht, „wo’s langgeht“.

      Die in diesen Zitaten geäußerten Ansichten scheinen durch eine Vielzahl von psychologischen und neurowissenschaftlichen Experimenten gestützt zu werden, von denen viele auf die klassische Untersuchung von Benjamin Libet und seinen Mitarbeitern zu Beginn der 1980er Jahre zurückgehen.29 Libet wollte herausfinden, in welcher Beziehung die bewussten Absichten einer Person zu den neuronalen Vorgängen im Gehirn der Person stehen. Er entwarf ein Experiment, in dem jeder Teilnehmer, ein Collegestudent oder eine Collegestudentin, gebeten wurde, eine einfache Handlung zu tätigen, wie etwa einen Knopf zu drücken oder eine Hand zu bewegen. Die teilnehmende Person konnte die Handlung zu einem von ihr gewählten Zeitpunkt ausführen. Die Teilnehmer wurden außerdem gebeten, den genauen Zeitpunkt zu nennen, zu dem sie bewusst die Absicht bildeten, die Handlung auszuführen. Während des Experiments hatten sie eine leicht lesbare Uhr vor sich, sodass sie die Zeit überprüfen konnten. Diese Information erlaubte es Libet, zu erkennen, wieviel Zeit zwischen dem angegebenen Zeitpunkt der bewussten Entscheidung und der Handlung selbst verging. Darüber hinaus ließ Libet während des ganzen Experiments mittels eines EEGs (Elektroenzephalogramms) die neuronale Aktivität im Gehirn eines jeden Teilnehmers messen. Auf diese Weise konnte er die Struktur der Gehirntätigkeit beobachten, die die bewusste Entscheidung des Subjekts begleitete. Auffällig war, dass die neuronale Aktivität, die zur Ausführung der Handlung führte, ein neuronales Bereitschaftspotential, bereits einige hundert Millisekunden vor der Bewusstwerdung der Handlungsabsicht durch das Subjekt feststellbar war. Dies legt den Schluss nahe, dass die unterbewusste Gehirntätigkeit, und nicht die bewusste Handlungsabsicht, kausal für die Handlung eines Subjekts verantwortlich ist. Die bewusste Absicht ist nur ein Epiphänomen. Stellungnehmend zu den Libet-Experimenten schreibt der Psychologe Daniel Wegner:

      „Es scheint, dass das bewusste Wollen nicht der Beginn des Vorgangs der willentlichen Bewegung ist, sondern ein Ereignis in einer Kaskade von Ereignissen, aus der letztendlich die Bewegung hervorgeht. Die Position des bewussten Wollens auf der Zeitachse legt vielleicht nahe, dass die Erfahrung des Wollens ein Glied in einer Kausalkette ist, die zur Handlung führt, aber in Wirklichkeit ist sie vielleicht nicht einmal das. Sie ist möglicherweise nur ein loses Ende, eines der Dinge, das, wie die Handlung, durch vorangehende Gehirnvorgänge und mentale Ereignisse verursacht ist.“30

      In einer neueren Untersuchung berichteten John-Dylan Haynes und seine Mitarbeiter, dass Gehirnscandaten dazu benutzt werden können, um mit einer besser als zufälligen Genauigkeit die Entscheidung eines Subjekts zwischen zwei Handlungen einige Sekunden im Voraus vorherzusagen, wodurch sie die Befunde von Libet auf eine noch dramatischere Weise replizierten.31 Es ließe sich noch sehr viel mehr darüber sagen, wie all diese experimentellen Befunde zu interpretieren sind, und ich werde in Kapitel 5 auf sie zurückkommen, aber zumindest ihrem Anschein nach liefern sie Belege für den Epiphänomenalismus: Das Verhalten eines Handelnden ist anscheinend das Resultat physikalischer Ursachen, und die Absichten des Handelnden sind bloß ein Nebenprodukt oder ein Glied in einer längeren Kausalkette.

      Es sollte also klar sein, dass jedweder Versuch einer Verteidigung des freien Willens vor beträchtlichen Herausforderungen steht. Die Behauptung, dass Personen tatsächlich über das Vermögen intentionalen Handelns verfügen, müsste gegen die Herausforderung durch den radikalen Materialismus verteidigt werden. Die Behauptung, dass Personen tatsächlich über alternative Handlungsmöglichkeiten verfügen, müsste gegen die Herausforderung durch den Determinismus verteidigt werden. Und die Behauptung, dass sie tatsächlich die kausale Kontrolle über ihre Handlungen besitzen, müsste gegen die Herausforderung durch den Epiphänomenalismus verteidigt werden. In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen, den freien Willen gegen jede dieser Herausforderungen zu verteidigen.

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