Fremde in der Nacht. Barbara Sichtermann

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Fremde in der Nacht - Barbara Sichtermann


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ihr zu passen, und auch dafür, dass sie eine Banklehre abgeschlossen hatte und auf der Sparkasse in der Girokontenabteilung arbeitete, bewunderte ich sie aufrichtig. Sie aber glaubte, dass nur ein Mädchen mit enormen Formen und einem tollen Beruf wie Fernsehmoderatorin oder Profi-Sportlerin für mich gut genug sei. Dabei hätte ich mich mit so einer Superfrau nie wohl gefühlt.

      Ich fand, dass meine U-Bahn-Braut vortrefflich zu mir passte, und ich weiß, sie fand das im »Crystal« absolut auch. Sie gab mir immer wieder diesen Treppenblick: Ich weiß, ich bin unmöglich, nimm mich trotzdem! Der Antwortblick, den ich versuchte, wollte sagen: »Keine Bange, Baby, ich lass dich nicht in Ruhe - du kannst machen, was du willst.«

      Leider hat sie das wörtlich genommen.

      Es ist Donnerstag, halb vier, die beste Zeit für Kundenbesuche. Das Wochenende hat noch nicht richtig angefangen, der Mensch ist offen für Fragen, die um den Ernst des Lebens kreisen. Andererseits ist es nicht mehr lange hin bis zu den arbeitsfreien Tagen, die Vorfreude hebt die Stimmung und stärkt die Bereitschaft, Bedenken zurückzustellen und einen Vertrag zu unterzeichnen. Frau Maaßen lebt im Osten. Man muss sie alle sanft anfassen, die Kunden von drüben, sie wittern den ganzen Tag Gauner. Zu Recht. Manchmal schmeichle ich mir, der einzige durch und durch ehrliche Versicherungsvertreter auf Berlins Böden zu sein, Umland inklusive. Wenn man, wie Frau Maaßen, nichts als eine Rente hat und einen Neffen großzieht, der so gut wie verwaist ist, sollte man die Verpflichtung spüren, für den Jungen eine Ausbildungsversicherung abzuschließen. Was wird denn sonst bloß aus dem Kind, wo die Arbeitsmarktlage ja hoffnungslos ist und die Tante auch nicht ewig lebt?

      Jeder Mensch, der einen U-Bahnwagen besteigt, macht eine Wandlung durch, und ich glaube zu wissen, was für eine. Reisende sind stets ein bisschen beunruhigt und meist in Eile - ist das Fahrzeug zuverlässig, habe ich auch nichts vergessen, komme ich rechtzeitig an? U-Bahnreisende empfinden nicht so. Sie sind von einem fraglosen Vertrauen erfüllt und würden am liebsten für die Dauer der Fahrt die Augen schließen. Ja, ein U-Bahnwaggon hat etwas so Bergendes wie eine Konservendose - er verwandelt seine Fahrgäste in zufriedene Sardinen. Und das Öl, in das wir alle eingelegt sind, die wir hier durch den Untergrund rollen, das U-Bahn-Fluidum, dem ich gern den Geruch zuschriebe, der mich unter Tage so reizt, es ist von einer besonderen Beschaffenheit: ein bisschen trübe, ein bisschen schwer, ein bisschen süß. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, was diese Flüssigkeit repräsentiert. Die Erschöpfung des Feierabends? Die Müdigkeit des Morgens? Die Bild-Zeitung? Bis ich des Rätsels Lösung in einem Zeitschriftenartikel fand. Es ging darin um die vorgeburtliche Geborgenheit im Fruchtwasser und die Neigung auch der erwachsenen Menschen, diesen Zustand der vollkommenen und glückerfüllten Sicherheit symbolisch oder auf dem Wege der Ähnlichkeit zu wiederholen. Wir alle, die wir hier sanft gerüttelt, in die Kurve gedrückt und von einem grollenden Geräuschmix aus Räderrattern, Motorengedröhn und Bremsenseufzen betäubt werden, wir alle, die wir dasitzen oder an den Haltegriffen hängen, ernst, abweisend und doch hingegeben - wir fühlen uns zuhause in einem schützenden Bauch. Was ist der fötalen Behaglichkeit ähnlicher als der Aufenthalt in einem Wagen, der durch den Leib der Erde zieht? Die Dosenfische, sie sind längst am Ziel - deshalb auch ist die Rate der Zuspätaussteiger in der U-Bahn am höchsten. Alle, die hier fahren, haben nicht nur an demselben Rhythmus teil, sondern auch an denselben Freuden. Die Wonne des Getragenwerdens löscht unsre Sorgen aus.

      Warschauer Straße — heute ist das noch eine umwegige Fahrerei mit der S-Bahn über Alexanderplatz; aber wenn erst die Oberbaumbrücke wiederhergestellt ist, könnte ich vom Heidelberger Platz aus durchrauschen und mit Frau Maaßen täglich Kaffee trinken. Was ich mir überlegen werde, denn sie kocht eine Plörre und ist voll von Vorurteilen gegen uns Westler. Aber sie ist eine vielversprechende Kundin - da mit einer großen Verwandtschaft gesegnet, von Sympathie für mich erfüllt und drauf und dran, mich öfters zu empfehlen.

      Die Warschauer Brücke überspannt die S-Bahn und das Gleisdelta des Hauptbahnhofs, der eigentlich »Schlesischer Bahnhof« heißt. »Warschauer Brücke« ist aber auch ein U-Bahnhof, einer der ältesten, vom Beginn des Jahrhunderts, weswegen ich ihn verehre. Zu DDR-Zeiten war er geschlossen. Denn hundert Meter weiter südlich verlief die Mauer - in Gestalt von Oberbaumbrücke, Spree und nervösen Grenzern, die hier mal auf einen türkischen Jungen angelegt haben. Der war von der Westseite aus in den Fluß gefallen.

      Jetzt wird der Bahnhof restauriert - und die historische U-Bahnlinie erhält ihre Endstation zurück. Vielleicht baut man sogar noch hoch bis zur Stalinallee. Für mich ist das ein Grund zur Freude. Wiewohl ich mich öfter mal frage, ob das alles gutgehen kann. Wieviel Baustellen verträgt ein so dünner Boden wie der Berliner? In der Friedrichstraße müsste die Erdkruste kurz davor sein, einzubrechen. Und so wird das auf farbigen Bauvorhaben-Tafeln angekündigte »Altberliner Flair«, das hier neu entstehen soll, in den Orkus saugen, noch bevor es geschlüpft ist.

      Es ist heiß auf der Warschauer Brücke, der leichte Wind kühlt nicht. Unter blauen Abdeckplanen, die den schmucken alten Zierturm neben dem Bahnhof einhüllen, bricht eine Rotte Kids hervor - was hatten die da verloren? Ja, jetzt ist Feierabend; die Arbeiter gehen nach Hause, und die Diebe und Junkies und Obdachlosen drängen in ihre Quartiere. Längst sind die Nächte so warm, dass man auch im Freien schlafen kann - aber was passiert bei plötzlichem Gewitter? Die Kinder hier sind noch ganz grün, einer von ihnen, ein schlanker Schwarzer, ist vielleicht siebzehn. Vorneweg stakst ein Mädchen, eins von der Sorte, die urplötzlich wie wild zu stark wachsen. Ist nur’n halben Kopf kleiner als ich, das Gör, und schätzungsweise vierzehn. Ihre schwarzen Haare sind verfilzt und stehen wie Schlangen vom Kopf ab. Eine Medusa. Doch das Gesicht ist nicht schrecklich, o nein. Sie zeigt es mir deutlich, als sie ihre Rotte über die Brücke fuhrt und auf mich losstürmt, als wolle sie durch mich hindurchmarschieren. Sie lässt es drauf ankommen, und ich, jaja, ich weiche aus. Die Burschen grölen. Von der Schwarzhaarigen höre ich ein »Yeah!«, und dann lacht sie ein krächzendes Lachen. Man sollte diese Kids in großen Keschern fangen und so lange zum Straßenfegen, Müllsortieren und Reinigen der mit Graffitti beschmierten U-Bahnschachtwände einteilen, bis sie wissen, wo der Hammer hängt.

      Frau Maaßen wohnt in der Kopernikusstraße, in einem Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bin etwas zu früh und nutze die Zeit, mich im Treppenflur kurz zu kämmen. Wenn man wie ich einen natürlichen Kastanienton im Haar hat und außerdem natürliche Wellen, soll man die Haare so lang wachsen lassen, bis beides zur Geltung kommt. Das hat mir Almut auseinandergesetzt, und es hat mich überzeugt. Die Maaßen kann ihre Augenbrauen noch so hochziehen. Macht sie aber gar nicht, heute. Als sie auf mein Klingeln hin geöffnet hat, nickt sie nur mehrfach mit dem Kopf und sagt nach einem Seufzer:

      »Herr Schäfer, kommse rin. Kaffee steht schon auf’m Tisch. Stellense sich vor, der Karli ist ausgebüxt...!«

      »Karli?«

      »Mein Neffe, Sie wissen doch. Ist einfach ab durch die Mitte. Unauffindbar seit vorgestern.«

      Das sind ja Neuigkeiten. Die Maaßen forscht mit großen Augen in meinem Gesicht, im Schummerlicht des Korridors erkenne ich, dass ihre Ohren glühen. Sollte sie eine geheime Freude daran empfinden, mir den zu Versichernden, den Knaben, um dessentwillen ich die weite Reise von Wilmersdorf nach Warschau unternommen habe, als abgängig zu melden? Wo bleiben die mütterlichen Gefühle, die sie vorgeblich für den Stromer hegt? Als wir im Wohnzimmer angekommen sind, sehe ich tiefe Ringe unter ihren Augen und einen Zug äußerster Besorgnis um den Mund. Na also. Der Karli ist verschwunden, aber man wird doch wohl alles dafür tun, ihn wieder aufzufinden. Einer Versicherung steht nichts im Wege.

      »Wie alt isser denn genau, Ihr Karli?«

      »Gerade dreizehn geworden. Nehmse Sahne?«

      »Ja danke. Mit dreizehn kann so’n Junge ja schon alleine über die Straße


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