Himmelberg. Johannes Hucke

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Himmelberg - Johannes Hucke


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Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz, einer der wenigen österreichischen Taktiker von Rang, über hundert Orden, oftmals verwundet, noch häufiger ausgezeichnet – aber kein Pferdefreund, nein, durchaus nicht. In der Feld-Instruction für die Infanterie, Kavallerie und Artillerie hob dieser Vielbewunderte als Vorbedingung eines jeden Scheinangriffs die Ernsthaftigkeit der Aktion hervor: Der Opponent muss glauben, der Angreifer besitze eine reelle Chance, der Angriff könne zielführend sein.

      Freilich, das dürfte kaum gelingen. Sobald die Eindringlinge sich dessen gewiss werden, dass hier ein Einzelner auf sie zustürmt, ist es vorbei mit der List. Wie viele mögen es sein? Zwei, drei ... oder doch mehr? Nasir Shansab, der Freund des Grafen, hat keine Schätzungen angegeben. Kommt die Hilfe womöglich längst zu spät? Ein entsetzlicher Gedanke! Welche Waffen werden sie tragen? Am Ende gar Maschinengewehre? Dann wäre überhaupt nichts auszurichten; sogar der Rückzug könnte schiefgehen. Wer beherzigt heute noch, dass man Leuten nicht in den Rücken schießt! – Eine weitere Randnotiz der Kavalleriegeschichte fällt Graf Hoensbroech ein, als er den Schimmel zwischen die Rebreihen lenkt, nunmehr in leichtem Galopp. War’s nicht Graf Pappenheim, der mitten im Dreißigjährigen Krieg gewisse Fährnisregeln während der Feldschlacht einforderte? Caracollieren erachtete der Mann als feige; ein Reiterangriff auf feindliche Infanterie soll in einem Zug ausgeführt werden. Aus sicherer Distanz den Karabiner abfeuern und dann einfach wieder wegreiten, dergleichen entsprach mitnichten der Kriegsethik des katholischen Generals.

      Vorsichtig richtet sich der Reiter im Sattel auf. Der Saum des Wäldchens hinter den Rebreihen ist gut erkennbar. Jetzt sieht er auch die Rauchsäule: Tatsächlich, der Verdacht des Freundes, der sich auf dem Hochsitz verschanzt hat, bestätigt sich. Man scheint vor nichts zurückzuschrecken. Indem er sein Lieblingspferd zu schnellerem Galopp antreibt, zieht der Graf den Degen und streckt ihn vor, den Arm straff geradeaus. Die Kenntnis dieser Angriffshaltung verdankt er einem längst verstorbenen Schullehrer, der statt Erdkunde weit lieber Militärgeschichte unterrichtete. Jetzt ist es geschehen: Wer weiß, ob nicht auch zwischen den Weinstöcken Shansabs Verfolger lauern. Wenn hier schon Blut vergossen werden soll, dann wenigstens das richtige.

      In dem Sammelsurium aus strategischen Überlegungen, das ihm fortwährend im Hirn herumwirbelt, meldet sich auch noch der alte Clausewitz zu Wort, dessen Schrift „Vom Kriege“ die ältesten Erkenntnisse zur siegreichen Kriegsführung enthält und bis in die jüngste Zeit hinein durchsetzungswillige Manager inspiriert. Leider sind die beiden Zitate, die Hoensbroech ins Gedächtnis kommen, nicht eben ermutigend. „Eine Armee ist ein Werkzeug. Ein Werkzeug verschleißt.“ Oh ja, da sprach er recht, der preußische Militärakademiker. Den Verschleiß von sieben Lebensjahrzehnten spürt auch die Ein-Mann-Armee zu Pferde, die sich in immer rascherem Tempo dem Angriffsziel nähert. Damit taucht zugleich ein weiteres der Clausewitz’schen Axiome im Gedächtnis auf: „Nicht der Angriff ist die beste Verteidigung, sondern die Verteidigung der beste Angriff. Wer attackiert, befindet sich im Risiko, weil er sich somit bewegt und seine Kräfte zerstreut.“

      Immerhin Letzteres wäre im Falle des Reichsgrafen gar nicht möglich, da er doch allein gegen vermutlich schwer bewaffnete Männer reitet. – Mit einem Mal kann er sie ausmachen: Es sind derer drei. Sie blicken nach oben, gestikulieren. Jetzt scheinen auch sie etwas zu bemerken. Während das Feuer am Hochsitz emporzüngelt, wenden sich die angegriffenen Angreifer überrascht um. Ob sie tatsächlich Maschinengewehre dabei haben, kann der Marquis nicht erkennen. Dass sie nur mit faulen Äpfeln nach ihm werfen, erscheint unwahrscheinlich. Der vordere der Männer nimmt etwas Langes, Dünnes auf, legt an und zielt. Graf Hoensbroech duckt sich so tief wie möglich in die Mähne hinab und treibt seinen Schimmel an zum gestreckten Galopp. Seine größte Sorge gilt im Moment seinem Lieblingstier; nicht auszudenken, wenn es getroffen würde! Schließlich ist es nicht er, sondern der Graf Radetzky, welchselbiger einst stolz darauf gewesen, sich möglichst viele Pferde unterm Leib wegschießen zu lassen.

      Begonnen hatten die unerwarteten Wirren auf dem von Hoensbroech’schen Weingut vierzehn Tage zuvor. Die Griechin Paraskevi Pampukidis, von den meisten der Einfachheit halber auf Evi zusammengekürzt, die wohl kenntnisreichste Praktikantin, welche der Kraichgau bis dato gesehen hat, kam aus dem Keller heraufgeeilt. Sie hatte etwas festgestellt, was ihr ausgesprochen merkwürdig vorkam: Ausgerechnet mit dem Weißburgunder, der wichtigsten Sorte im Anbau, nicht nur auf dem Himmelberg, sondern im weiten Kreise, schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Eigentlich hatte die angehende Önologin den Wein gar nicht probieren wollen; dieser Morgen gehörte ganz ihren Experimenten, einzigartigen Erkundungen, die auf solche Weise in Deutschland noch nicht vorgekommen waren. Denn es genügte der jungen Hellenin durchaus nicht, die Gefilde Nordbadens allein mit dem Flair ihrer des antiken Götterhimmels würdigen Erscheinung zu beseelen, nein, ihr Ziel war ein veritabler vinologischer Kulturtransfer: Limnio und Monemvassia, zwei uralte Rebsorten aus der Heimat ihrer Vorfahren, hatte sie im Versuchsanbau gepflanzt. Zwei Gebinde, der Jungfernertrag, lagerten nunmehr im Keller der Lehrherren.

      Sie lagerten? Nein, sie stellten Fragen! Evis Wissensdurst kannte keine Grenzen: Wie würden diese Reben schmecken, wenn sie im saftigen Löss des Kraichgaus wüchsen und nicht im hitzigen Karst der Archipele? Immerhin, das vergangene Jahr war klimatisch günstig gewesen, die Trauben kamen reif auf die Presse – doch wie sollte es nun weitergehen? Täglich bestürmte die Vinophile die erfahrenen Meister mit neuen Fragen, unterbreitete frische Anregungen, entwickelte unerhörte Ideen: Wie, wenn man die Weine in Amphoren reifen ließe? Oder sollte man sie nicht doch lieber mit Harz versehen, wie dies im alten wie im neuen Griechenland der Tradition entsprach? Oder müsste nicht auf symbolträchtige Weise eine Cuvée gewagt werden, eine Mariage aus Limberger und Limnio, zwischen Kraichgau und Hellas? – Unter solchen Gedanken ging Evi im Keller auf und ab, verkostete wohl zum zehnten Mal an diesem Tage ihre flüssigen, tiefdunklen Lieblinge – und entschied sich, einstweilen nichts zu unternehmen.

      Stattdessen, aus Routinegründen, probierte sie erst einen Reichsgräflichen Grauburgunder, dann einen Auxerrois. Beide waren schon sehr schön entwickelt, versprachen viel für den weiteren Reifeprozess. Schließlich, ein wenig unkonzentriert, da ihr schon wieder ein neuer Gedanke durch den Kopf schoss, drehte sie den Hahn am Edelstahltank auf, worin sich der Weißburgunder befand, der einfachere, nicht der Premium-Wein, den hatte sie erst gestern gemeinsam mit Graf Adrian getestet. Schräg hielt sie das Glas unter den Strahl, drehte wieder zu, betrachtete den trüben Tropfen, schwenkte – und roch. Roch abermals ... und wieder ... und verzichtete darauf, den Wein im Munde zu bewegen. Mit einem für eine Praktikantin erstaunlich energischen „Adrian!“ durchmaß sie den Keller. Sie fand den Gesuchten am großen Schreibtisch im Verkostungsraum, wo gewaltige Ahnenproträts in Schmuckrahmen, feine Tapeten und kostbares Mobiliar aus den verschiedensten Schlössern der Familie eine Aura von Pomp und Erhabenheit, Noblesse und historischem Glamour verbreiten, die jeden Besucher unmittelbar einnimmt, nicht ohne ihm zu verdeutlichen, in welche Sphäre des Erlesenen man sich hier hineinbegibt.

      „Adrian, hast du den Weißburgunder noch mal geschwefelt oder was ist da los?“

      Der junge Graf Hoensbroech, seit einigen Jahren hauptverantwortlich für die Produktion, blickte amüsiert-gequält von den Rechnungen auf und stellte klar: „Nein. Sollte ich?“

      „Dann kann ich mir das überhaupt nicht erklären, was ist denn da nur passiert?“, echauffierte sich die Griechin. Medusenhaft ringelten sich die schwarzen Locken um ihr Haupt; es schien angezeigt, behutsam vorzugehen.

      Schmunzelnd klappte Graf Adrian zu Hoensbroech die Mappe zu und erhob sich. Keine Frage, das Anliegen der Praktikantin duldete keinen Aufschub. Mit therapeutisch abgedunkelter Stimme erkundigte er sich, welche Mängel sie denn festgestellt habe. Der Gang in den Weinkeller war begleitet von expressionistischen Beschreibungen der Widerwärtigkeit des Gestanks, welcher mit einem Male von diesem Trank, der noch vor kurzem zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, ausgehe. Am fraglichen Tank angekommen, reichte Evi Pampukidis dem Grafen stumm ein Probierglas und wies auf den Hahn. Der Wein sprudelte ins Glas, Hoensbroech roch, schwenkte, roch abermals ... und wieder ... und rief mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens:

      „Das ist ja ekelhaft!“

      Mutmaßungen folgten, was zu dieser unglaublichen Veränderung des Duftbilds geführt haben mochte. Den Senior konnte man nicht befragen; oft, sehr oft befand sich zumindest ein Mitglied


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