Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser

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Bunsenstraße Nr. 3 - Dietmar Schmeiser


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hängte mir morgens die Kindergartentasche um. In der befand sich ein Butterbrot, in Butterbrotpapier eingewickelt. Das Papier sollte ich wieder mitbringen, man konnte es mehrmals verwenden. Manchmal befand sich in meinem Täschchen auch noch ein Apfel.

      Mit gestrickter Mütze auf dem Kopf hatte ich hinter der Fensterscheibe des Wohnzimmers zu warten, bis eine der Tanten die Straße entlangkam. Sie hatte schon etliche Kinder bei sich, und ich musste mich der Schar anschließen. Mutter winkte mir regelmäßig vom Fenster aus hinterher. Mein kleiner Bruder durfte zu Hause bleiben.

      Wir durchzogen noch etliche Straßen. Überall wurden Kinder aufgesammelt, bis wir in stattlicher Zahl den Kindergarten erreicht hatten. Der war versteckt hinter unserer gewaltigen, neuromanischen Kirche, St. Bonifatius. Er hatte einen Namen, der mir noch nie begegnet war: St. Lioba. Erst im Kommunionunterricht erfuhr ich, wer diese Heilige war. Ganz einfach, die Weggefährtin des Heiligen Bonifaz.

      Was ich im Kindergarten bewunderte, war ein großes Mädchen, das um eine flache Korkplatte würfelförmige, farbige Holzperlen reihen konnte. Ein anderes Mädchen machte aus Keramikperlen einen Untersetzer. In dieser farblosen Zeit des beginnenden Krieges faszinierten mich diese Farben. Solche Arbeiten kamen für mich leider nicht in Frage. Ich war eben noch viel zu klein und folglich zu dumm. Wahrscheinlich durften auch nur Mädchen solche schönen Arbeiten machen.

      Oft drängte ich meine Mutter, zu Hause bleiben zu dürfen. Sie aber war leider konsequent. Zu Hilfe kam mir dann der Krieg. Die Stadt wurde in zunehmendem Maße bombardiert, zuweilen auch am Tag. Das ängstigt jede Mutter. Bevor aber der erlösende Entschluss meiner Mutter kam, dass ich zu Hause bei meinem kleinen Bruder bleiben durfte, ereignete sich etwas Seltsames.

      Wir waren noch nicht richtig am Morgen in St. Lioba angekommen, wurden wir schon wieder in unsere Jacken gesteckt und hatten unsere Mützen aufzuziehen. Die Butterbrote blieben im Kindergarten, und alle Kinder zogen zum Weinbrennerplatz. Dort hatten sich noch viele andere Menschen versammelt. Sie waren höchst unruhig. Kein Auto auf der Straße. Plötzlich löste sich die Unruhe in unverständliches Getobe der Erwachsenen. Nie gesehene Wagen und ein prächtiges Cabriolet kamen aus Richtung Westbahnhof die Kriegsstraße entlang. Die Leute riefen: „Er kommt“ und brüllten: „Heil Hitler.“ Viele rissen den rechten Arm hoch oder winkten den Wagen zu. Mir blieb das Gehampel der Erwachsenen weiterhin schleierhaft. Ich fand uns Kinder viel vernünftiger.

      Bald bemerkte ich, dass ein Kind aus unserem Kindergarten – natürlich wieder ein Mädchen und wieder ein großes – von der Nonne einen Blumenstrauß erhalten hatte, mit dem es auf den offenen Wagen zuging, in dem der Uniformierte saß. Der ließ anhalten, nahm den Strauß entgegen – und schenkte dem Mädchen eine Brezel.

      Mir blieb unklar, was so ein Führer sei. Verschmerzen konnte ich, dass das Kind ihm einen Blumenstrauß hatte bringen dürfen. Was mich allerdings begehrlich machte, war die Brezel. Die hatte nicht der kleine Dietmar, die hatte – wie konnte ich es auch anders erwarten – ein großes Mädchen.

      Tag der Wehrmacht

      Es war Sommer. Und die Sommer waren immer schön, auch in einer Stadt voller Ruinen. Noch war längst nicht alles zusammengebombt. Unsere Straße war unzerstört. Nur den Nuber hatte es getroffen, das Haus unseres Frisörs. Auch die Uhlandstraße stand noch unversehrt, ansehnliche Straßenzüge aus wohlhabenden Zeiten, in denen die Hausbesitzer darin wetteiferten, sich einen schönen Stil an die Fassaden kleben zu lassen. Da gab es moderne, die hatten einen Touch von Jugendstil, zum Beispiel das, in dem Edwin und ich aufwuchsen, eben die Bunsenstraße Nummer 3. Andere Eigentümer dachten historischer. Sie bauten in Gotik oder Romanik. Wieder andere schätzten das Deutsche. Die hatten schwere Bogen errichten lassen mit viel Sandsteinverkleidung und in Giebelnähe Fachwerk. Diese Häuser sahen aus wie veritable Burgen, so etwa das Gebäude der Drogerie Schradi. Auf jeden Fall, es gab viel zu sehen, auch wenn die Fassaden nach fünfzig Jahren durch Krieg und Armut eingegraut waren. Besonders eindrucksvoll waren diese Straßen, wenn riesige Fahnen, blutrot und mit einem arischen Zeichen in Schwarz auf weißem Grund aus den oberen Fenstern hingen und im sanften Aprilwind vom gemeinsamen Glauben an den Sieg kündeten.

      Ein solcher Tag war heute. Mutti hatte uns sonntäglich herausgeputzt, und es galt, einen weiten Marsch durch die Weststadt zu absolvieren. Das Geld für die Straßenbahn wurde gespart. Möglicherweise hatten wir die Aussicht, den Heimweg mit der Elektrischen zu machen. Ja, wo ging es denn eigentlich hin? Zum Tag der Wehrmacht. Was mag es dort zu sehen geben? Die Wehrmacht. Und es war weit bis zur Wehrmacht. Nachdem wir die düsteren, hohen Häuserschluchten der Uhlandstraße verlassen, die Kaiserallee überquert hatten, kamen wir in eine vornehme Villengegend, in der fast nichts zerstört war.

      Endlich war es so weit. Mächtige Sandsteinkasernen säumten die Moltkestraße – der richtige Name für eine Kasernenstraße. Und jetzt hätte ich es fast vergessen: Eine der Villenstraßen war nach unserem Gauleiter von Baden benannt. So viel Ehre konnte man in jenen Zeiten schon zu Lebzeiten genießen, wenn man an der richtigen Stelle saß. Robert Wagner hieß dieser Goldfasan inzwischen, getauft hingegen war er auf den Namen Robert Backfisch.

      Wir waren inzwischen bei den roten Sandsteinen angelangt, oder besser bei den Kasernen, die man schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten errichtet hatte.

      Eine richtige Kaserne hat erst mal einen hohen Zaun. Und der steht noch heute in der Moltkestraße. Aus durchsichtigen Gründen braucht eine Kaserne solch hohe Zäune.

      Nun gut, eine Kaserne hat und hatte ein großes Tor mit einer Schildwache davor, und das Lied von der Lili Marlen, das war mir auch schon hinlänglich bekannt. Die Schildwache grüßte stramm, es gab auch viel Musik aus großen Lautsprechern. Mutti hatte uns an die Hand genommen und zog uns rasch an allerhand Feldgrauen vorbei. Mutter war noch eine junge Frau und ohne Mann.

      Die Musik machte mir Angst. Sie war mir fremd. Es waren swingende Saxophone zu hören, deren Melodie ich heute noch nachsummen kann. Sie sollte wohl lustig klingen, ich empfand sie beängstigend, obwohl ihr das beängstigende Heldische fehlte, das aber nicht lange auf sich warten ließ. Schon war er da, der zackige Militärmarsch, und kaum verklungen, brüllte ein Spieß aus Leibeskräften Unverständliches, worauf in Sekundenschnelle acht Mann akkurat in einem offenen Wagen stramm Platz nahmen, die zuvor noch neben ihm gestanden hatten. Das hatte wohl nicht nur mich beeindruckt, sondern noch mehr die anderen Zuschauer, die offensichtlich nach Zugabe lechzten, was der Brüller wohl bemerkte, und schon durften die flotten Soldaten wieder genau so fix vom Wagen absitzen, wie sie hinaufgekommen waren. Stocksteif standen sie nun wieder neben ihrem Wagen. Schon brüllte es wieder, und die Grauen saßen wiederum auf dem Wagen, die Gewehre zwischen den Beinen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft sich diese Szene wiederholte. Was für einen Sinn die Übung hatte, konnte ich nicht erkennen, beeindruckt hat sie mich doch. Es war mir unverständlich, wie Menschen so schnell, so akkurat einen Wagen besteigen konnten. Maschinen hätten es nicht besser gekonnt. Gestört hat mich nur das unverständliche Gebrüll des Obersoldaten.

      Wer darauf hoffte, es käme noch besser, noch lauter, noch maschinenhafter, der hatte sich getäuscht. Ich erinnere mich an kaum einen Panzer, eine Flak oder eine Pak. Wahrscheinlich war kein Kriegsgerät mehr in Karlsruhe.

      Wie gesagt, es war ein schöner Sommertag, wie es den in Karlsruhe häufiger geben mag als in anderen deutschen Städten, eben wärmer und sonniger. In einem der Kasernenhöfe bildete sich ein großer Kreis von Zuschauern auf Empfehlung des Lautsprechers, aus dem zuvor diese unheimliche Musik erschallt war. Plötzlich, weiß Gott woher, kamen zwei Radfahrer, diesmal nicht in Grau. Nein, ganz bunt angezogen mit hässlichen, furchterregenden Gesichtern, jedes mit unwahrscheinlich dickem rotem Mund, weiß umrandet, von einer Knollennase überragt, über der riesige Augen leuchteten und ein runzliger Glatzkopf thronte. Solche Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wie sie angezogen waren: bunter Ringelpullover und grelle Hosen. Wer kleidet sich schon so? Eines musste man ihnen allerdings lassen: Sie konnten unwahrscheinlich schnell und geschickt Rad fahren. Kreischend jagten sie hintereinander her. Sie schrien, beschimpften sich, lachten wieder. Je wilder sie es trieben, um so mehr freute sich das Publikum. Mir war das alles fremd. Ich hatte eher Angst. Die Zuschauer fanden die bunten Kerle lustig und grölten. Ich wollte kein dummes Kind sein, das die Scherze der Großen nicht versteht. Ich versuchte auch zu lachen. Ob meine Mutter


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