Seewölfe - Piraten der Weltmeere 341. Roy Palmer
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Hasard war nicht entgangen, daß Mardengo die „San Carmelo“ verlassen hatte und zur Insel pullte. Doch das änderte nichts an seinem Plan. Er hing bereits am Ruderblatt der „Isabella“ und ließ sich langsam nach unten gleiten. Er hielt sich an einem Tau fest, das von der Heckgalerie herunterbaumelte.
Niemand sah ihn, weder vom Riff aus noch von den beiden Ufern des Flusses, denn das Heck der „Isabella“ lag zu diesem Zeitpunkt dem oberen Lauf des Flusses zugewandt. Die Beobachter im Dschungel indes befanden sich weiter abwärts, in dem der See nahe liegenden Bereich der trichterförmigen Mündung.
Hasard tauchte im Wasser ein, holte tief Luft und sank dann ganz unter die Oberfläche. Das Tau ließ er los. Ben würde es wieder bergen, er hatte alle erforderlichen Anweisungen, wie er sich zu verhalten hatte. Während Hasards Abwesenheit hatte er das Kommando über die „Isabella“.
Hasard mußte um jeden Preis handeln, er hatte seiner eigenen Ansicht nach bereits lange genug gezögert. Im Alleingang begab er sich auf Pirates’ Cove zurück, und er hatte sich fest vorgenommen, einen Weg zu finden, der sie alle aus der Falle, in der sie festsaßen, herausführte.
Er tauchte so weit wie möglich und schwamm gegen die Strömung an. Er zwang sich, nicht an die möglichen Gefahren zu denken – nicht an die Alligatoren, die Piranhas und Zitteraale, die hier lauern konnten. Die Fauna der Karibik war ihm zur Genüge bekannt – und diese Insel gehörte erdkundlich bereits zur Karibik und nicht mehr zum nördlichen Teil der Neuen Welt. Florida hatte insgesamt eher tropischen Charakter, wie die Seewölfe bei ihrem jüngsten Abstecher zu der großen Halbinsel festgestellt hatten, die vorher nie von ihnen bereist worden war.
Hasard hatte Glück und gelangte unbehelligt in die Flußregion, deren Ufer zu beiden Seiten dicht mit Mangroven und anderen Pflanzen bewachsen waren. Er beendete den Tauchvorgang, indem er auf das westliche Ufer zusteuerte und sich hinter der Deckung von Luftwurzeln vorsichtig hochschob. Endlich konnte er wieder Luft schöpfen.
Er konnte die „Isabella“ sehen, von den Piraten aber war nichts mehr zu entdecken. Von jetzt an blieb es seinem Geschick und seiner List überlassen, sie zu hintergehen und zu überrumpeln. Welche Chancen er hatte, es tatsächlich zu schaffen? Diese Frage stellte er sich nicht. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte.
Seine Männer hatten protestiert. Sie wollten ihn begleiten und es nicht zulassen, daß er allein auf die Insel zurückkehrte, deren Urwald mit Fallen gleichsam gespickt zu sein schien.
Little Ross hatte auch mitkommen wollen, ebenso Tamao und Asiaga. Hasard hatte jedoch alle Angebote abgelehnt. Selbst zwei Männer würden zu sehr auffallen, nur einer allein hatte eine Chance, sich ungesehen fortzubewegen – von diesem Grundsatz ging er aus.
Am Ende hatte er sich jede weitere Debatte verbeten. Ben hatte seine klaren Anweisungen – und auch Ferris Tucker wußte, was er zu tun hatte. Wenn sie ihren Teil des Plans erfolgreich ausführten, hatte auch er größere Chancen, die Piraten irgendwie zu übertölpeln.
Das mußte den Arwenacks einleuchten, und sie hatten es schließlich auch eingesehen. Sie rechneten sich jetzt aus, wie weit Hasard gelangt sein konnte, und sie drückten ihm die Daumen, daß alles so klappte, wie er sich das vorstellte.
Hasard war mit einem Entermesser und einem Messer bewaffnet. Zum Überleben zuwenig, zum Sterben zuviel, dachte er und mußte unwillkürlich grinsen. Wo sollte er Carberry, Roger und Sam suchen? Lebten sie überhaupt noch? Auch darüber durfte er nicht grübeln, es brachte ihm nichts ein.
Vorsichtig kletterte er an Land und schlüpfte in das Dickicht. Von jetzt an mußte er höllisch auf der Hut sein. Bekanntschaft mit den tückischen Fallen hatten seine Männer und er bereits geschlossen, auf jedem Yard konnte eine Grube, ein vergifteter Pfeil oder eine Schlinge auf ihn warten.
Doch es war noch hell genüg, er konnte genug sehen und arbeitete sich systematisch voran. Wo lag das eigentliche Lager der Piratenbande, das Versteck? Befand es sich an der östlichen Bucht, die er bei seiner Ankunft von der See aus gesehen hatte? Oder vielleicht im Inneren der Insel? Wenn er das erst einmal erkundet hatte, war er schon ein Stück weiter.
Vielleicht hat man Ed, Roger und Sam dorthin geschafft, dachte er.
Galeonen näherten sich Pirates’ Cove – die „Santa Veronica“ segelte an der Spitze ihrer sechs Dreimaster direkt auf die Insel zu. Grollender Kanonendonner hatte Don Augusto Medina Lorca und Don Lope de Sanamonte auf das Gefecht hingewiesen, das dort stattfand. Das Lärmen war jetzt verstummt, und auch der Rauch hatte sich in fetten, schwarzen Schwaden nach Süden verzogen. Doch die Schiffe behielten ihren Kurs bei. Don Augusto und Don Lope wollten genau wissen, was vorging – und ob möglicherweise das vermißte Schiff „San Carmelo“, das zum Verband gehört hatte, dort in einen Kampf verwickelt war.
Hoch am Wind segelten die Galeonen mit Backbordhalsen und über Steuerbordbug liegend, liefen gute Fahrt und waren von ihrem Ziel nicht mehr weit entfernt. Sie bewegten sich in Kiellinienformation, denn immer wieder mußten sie den gefährlichen Unterwasserbarrieren ausweichen, die sich ihnen in den Weg schoben.
Ohne den Lotsen, der auf dem Achterdeck zwischen Don Lope und Don Augusto stand, wäre das nicht möglich gewesen. Unweigerlich wären die Schiffe auf die Riffe gelaufen und hätten auf dieser mörderischen Falle ihre Reise beendet.
Don Lope hatte seine Pistole in der Hand, er war bereit, den Lotsen jederzeit durch einen Schuß niederzustrecken, falls er wagte, sie in eine Falle zu führen, die dem Geleit zum Verhängnis wurde. Er, Don Lope, hatte diesen Kerl gezwungen, die Aufgabe zu übernehmen, aber er war immer noch nicht sicher, ob er ihm trauen durfte.
Der Kerl gehörte zu den Piraten von Mardengos Bande, die nach der Schlacht bei Daytona gefangengenommen worden waren. Don Augusto hatte sie bereits verhört, aber sie hatten alle dichtgehalten und nichts über Mardengo und dessen Schlupfwinkel, nach dem die Spanier seit Jahren fahndeten, verraten.
So war der Verband bis zu den Marquesas-Inseln gesegelt und hatte dort vergeblich nach Mardengo, nach dem englischen Freibeuter, der den Schatz von St. Augustine an Bord hatte, und nach der „San Carmelo“ gesucht. Die ganze Aktion war ein Schlag ins Wasser gewesen. Was sollte Don Augusto jetzt noch tun? Er war ratlos; doch dann waren die Kanonenschüsse gefallen, die nicht nur Don Lope und ihn, sondern die Besatzungen der sieben Galeonen alarmiert hatten.
Don Lope ließ den Piraten nicht aus den Augen. So entging ihm auch nicht die äußere Veränderung des Mannes. Er war kalkweiß im Gesicht geworden und schwitzte. Seine Lippen bebten leicht, sein Blick war starr vorausgerichtet. Kaum noch zu vernehmen waren die Worte, mit denen er die erforderlichen Kurskorrekturen gab.
„Was ist los?“ fragte Don Lope lauernd. „Ist dir schlecht? Hast du erkannt, um welche Insel es sich handelt?“
„Es geht mir gut. Ich kenne diese Insel nicht.“
„Du verheimlichst uns etwas“, zischte Don Lope. „Du weißt, wer da in die Gegend feuert, nicht wahr?“
„Ich weiß es nicht.“
„Mir kannst du nichts vorschwindeln“, sagte Don Lope. „Heraus mit der Sprache – wie heißt die Insel? Und was erwartet uns dort?“
Der Mann schwieg. Don Lope stieß einen Fluch aus und rammte ihm den Kolben seiner Pistole in den Leib. Stöhnend krümmte sich der Pirat. Don Lope stieß noch einmal zu, dann versetzte er ihm zusätzlich einen Tritt und verfolgte, wie er auf die Planken sank.
„Sprich – oder ich töte dich!“ schrie er ihn an. „Was geht hier vor? Du weißt es!“
Der Mann antwortete wieder nicht. Don Lope wollte sich auf ihn stürzen, doch jetzt war es Don Augusto, der ihn zurückhielt.
„Schluß“, sagte Don Augusto. „Das geht selbst mir zu weit, werter Don Lope.“
„So?“ Don Lopes Gesicht war zu einem höhnischen Ausdruck verzerrt. „Haben Sie Mitleid mit diesem Hundesohn? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.“
„Ich