Seewölfe - Piraten der Weltmeere 212. Roy Palmer
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Raghubir hatte die Flucht ergriffen – zum erstenmal, seit er an der Ostküste Indiens seine Beutezüge unternahm.
Er hat die Schlacht falsch begonnen, dachte der Pirat, sonst hätten wir siegen müssen, denn wir waren in der Übermacht. Raghubir hat bewiesen, daß auch er seine schwachen Seiten hat. Einige von uns sind verreckt, aber wir hätten auch alle sterben können.
Der Bengale hatte unterdessen so viele Zweige und Blätter abgebrochen, daß er meinte, sie müßten genügen, um einen provisorischen Unterschlupf herzustellen. Er wollte zu seinem Kumpan zurückkehren, glaubte aber plötzlich, hinter sich ein Geräusch wahrzunehmen, das sich vom Rauschen des Regens und den sonst üblichen Lauten des Dschungels deutlich unterschied. Ein Knakken, als habe jemand auf einen Zweig oder auf eine Wurzel getreten.
Er fuhr herum.
Er sah eine Bewegung und erkannte zu seinem Entsetzen die Umrisse einer Gestalt, die aus Dunst und Wasser hervorzuwachsen schien. Er ließ das Reisig fallen und griff nach dem Säbel, der in seinem Gurt steckte.
Doch es war bereits zu spät für eine Reaktion. Der Fremde riß eine große Faust hoch, und die eisenharten Knöchel trafen das Kinn des Freibeuters mit voller Wucht. Er brach zusammen, aber ehe er das Bewußtsein verlor, stellte er noch fest, daß der Fremde hochgewachsen und breitschultrig war und schwarze Haare hatte – ein weißer Mann mit einem markant geschnittenen und verwegenen Gesicht, das von einem Paar eisblauer Augen beherrscht wurde.
2.
Hasard beugte sich über den hageren Bengalen und vergewisserte sich, daß dieser auch wirklich besinnungslos war. Dann wandte er sich um und gab seinen wartenden Männern ein Zeichen.
Sie schlüpften aus dem dichten Gestrüpp hervor und zu ihm: Carberry, Big Old Shane, Blacky, Batuti, Dan O’Flynn, Smoky und Matt Davies. Blacky und Batuti legten dem überwältigten Gegner Hand- und Fußfesseln an. Sie verschnürten ihn so, daß er sich nicht mehr rühren konnte, und steckten ihm dann einen Stofffetzen als Knebel zwischen die Zähne.
Hasard teilte die Zweige des Gebüschs, das zwischen ihm und dem Strand war, mit den Händen und spähte durch den Regen zu der Gestalt des zweiten Wachtpostens hinüber.
„Es ist nicht so leicht, sich an ihn heranzuschleichen“, teilte er seinen Begleitern dann flüsternd mit. „Er sitzt ziemlich weit vom dichten Gebüsch entfernt und könnte sich umdrehen, ehe wir ihn zu fassen kriegen. Wenn er Krach schlägt, vereitelt er womöglich unseren Überraschungsangriff auf das Hüttenlager.“
„Es liegt eine Meile entfernt, hat Yasin gesagt“, raunte Shane. „Und wenn der Kerl dort unter dem Baum auch noch so brüllt, seine Spießgesellen oben auf dem Hügel können ihn bei dem Lärm, den der Regen verursacht, doch nicht hören.“
„Es sei denn, er feuert seine Pistole oder seine Muskete ab“, meinte Matt Davies leise.
Carberry warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. „Manchmal frage ich mich, ob du mit dem Kopf denkst oder mit einem anderen Körperteil, Mister Davies. Bei diesem Guß ist keine Schußwaffe mehr zu gebrauchen, du Stint, denn das Zündkraut wird naß.“
„Es sei denn, man bewahrt sein Schießeisen im Trockenen auf“, zischte Matt. „Könnte doch immerhin sein, oder, Mister Carberry?“
Der Seewolf brachte sie durch eine Gebärde zum Schweigen, ehe sich ihre Gemüter zu sehr erhitzten.
„Ob er nun eine schußbereite Waffe hat oder nicht, wir gehen kein Risiko ein“, raunte er. „Warten wir eine Weile ab, vielleicht fängt er an, seinen Genossen zu vermissen.“
Tatsächlich stand der Große wenige Augenblicke später auf und setzte sich in Richtung auf das Dickicht in Bewegung.
„Satan von einem Bengalen“, sagte er ärgerlich. „Wo steckst du? He, was ist das für eine Art, seinen Posten zu verlassen und so lange wegzubleiben? Bei Shiva, ich pfeife auf dein elendes Regendach.“
Eine Antwort erhielt er nicht.
Verwundert trat er noch einen Schritt näher an das Gestrüpp heran. Der Regen flutete auf ihn nieder und troff an seiner Gestalt hinunter.
„Bist du hier?“ fragte er dann noch einmal, diesmal lauter, um sich gegen das Rauschen des Wassers zu behaupten: „He, du Galgenstrick, bist du noch da?“
Ein lautes Rascheln ertönte plötzlich aus den Büschen. Der Pirat stieß einen Fluch aus. Er glaubte, seinen Begleiter entdeckt zu haben und hielt schon eine neue, noch üblere Verwünschung zu seiner Begrüßung bereit, aber da brach etwas ungestüm aus den Sträuchern hervor und flog auf ihn zu. Es war eine wuchtige, bullige menschliche Gestalt, die den Freibeuter mit ihrem Gewicht unter sich begrub, ehe er ihr ausweichen konnte. Beide Männer landeten im Schlamm.
Carberry hielt die Arme des Inders mit seinen Knien fest, so daß dieser sie nicht mehr bewegen konnte. Er hieb nur einmal mit seiner Faust zu, und der Mann unter ihm erschlaffte und blieb mit geschlossenen Augen reglos liegen.
Hasard, Shane und die anderen traten aus dem Gebüsch. Sie suchten die nähere Umgebung nach weiteren Wachtposten ab, konnten aber niemanden entdecken.
„Zwei Wächter an der Bucht, hat Yasin gesagt“, brummte Big Old Shane. „Und zwei waren es auch nur. Der Bursche scheint also wirklich die Wahrheit zu sprechen.“
Hasard sagte: „Es hat den Anschein. Aber ich bin immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß er aufrichtig ist.“
„Warum haben wir ihn dann nicht bei uns behalten?“ fragte der graubärtige Riese.
Hasard blickte ihn an. „Weil es mir lieber ist, wenn er Bens Gruppe zum Lager hinaufführt. Der Pfad von der Flußmündung bis zum Versteck ist schwerer zu verfolgen als der, der von hier aus zur Lichtung verläuft. Jedenfalls behauptet Yasin das. Ich habe Ben aber eingeschärft, er soll ihn im Auge behalten.“
Matt Davies hatte sich über den bewußtlosen Piraten gebeugt.
Carberry richtete sich soeben wieder auf und sagte unfreundlich: „Sieh ihn dir ruhig ganz genau an. Er trägt eine Pistole, aber sie ist klatschnaß. So schlau, die Waffe in einen ölgetränkten Lappen zu wikkeln, wie wir es getan haben, war er nicht. Meiner Meinung nach ist er ein Idiot.“
„Mister Carberry, Sir“, sagte Matt in gespielter Ehrfurcht. „Ich bewundere deinen Scharfsinn.“
Hasard näherte sich ihnen, deshalb verkniff sich der Profos eine geharnischte Antwort.
„Smoky und Matt“, sagte der Seewolf. „Ihr fesselt auch diesen Kerl, und dann bleibt ihr als Wachtposten hier am Strand zurück. Versucht, jeden zurückzuhalten, der sich möglicherweise den Booten nähert. Wir sechs anderen versuchen jetzt, so schnell wie möglich das Hüttenlager zu erreichen.“
Kurze Zeit später hatte er mit dem Profos, Shane, Blacky, Batuti und Dan den Pfad entdeckt, der sich durch den Busch zum Hügel hinaufwand. Yasin, der früher bei den Spaniern in Madras als Lakai gedient hatte und die spanische Sprache ziemlich gut beherrschte, hatte eine ausgezeichnete Beschreibung von den Ortsverhältnissen gegeben.
Hasard und sein Trupp mußten also von Südwesten her auf das Lager stoßen. Ben und seine Gruppe hatten es inzwischen zweifellos vor sich, ihr Weg traf von Westen her auf die Lichtung.
Gemeinsam wollten sie in das Lager eindringen und versuchen, die Mädchen zu befreien.
Außer Yasin befanden sich bei Ben Brighton Old O’Flynn, Luke Morgan, Bob Grey, Jeff Bowie, Stenmark und Sam Roskill.
An Bord der „Isabella“ waren somit nur noch Ferris Tucker, der Kutscher, Pete Ballie, Gary Andrews, Al Conroy, Will Thorne, Bill und Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs – ein kleiner Haufe nur, aber immer noch stark genug, um im Bedarfsfall die Geschütze zu zünden, die unter den Regendächern aus Persenning gefechtsbereit standen.
Narayan und Chakra hatten den Seewolf unbedingt begleiten wollen, doch