Seewölfe - Piraten der Weltmeere 232. Roy Palmer
Читать онлайн книгу.es sich um Tempel oder ähnliche Kultstätten handeln. Die andere, auf der dritten Karte, zeigte eine langgestreckte Gestalt mit einem löwenähnlichen Kopf und einem mächtigen Hinterleib, die wie eine hingekauerte Riesenkreatur anmutete – und ganz in ihrer Nähe waren wieder die seltsamen Dreiecke.
Immer wieder kehrte der Seewolf zu seiner ursprünglichen Annahme zurück, daß die Landkarte den Verlauf eines ziemlich breiten Stromes zeigte, von dem kleine Flüsse abzweigten, die wiederum durch einen künstlich gezogenen Kanal miteinander verbunden waren.
Der alte Sidi Barim hatte den Zwillingen einmal von solchen alten Bauwerken berichtet, die einem Märchen zufolge bis in den Himmel wuchsen. Könige, die vor Tausenden von Jahren bestattet worden waren, sollten im Inneren begraben liegen. Philip und Hasard junior vermuteten, daß die „Spitzhäuser“ in Ägypten, in Persien oder anderswo standen. Aber durfte sich ihr Vater auf diese vagen Angaben, die vielleicht noch durch ihre Phantasie verzerrt wurden, verlassen?
Er wußte, daß ihm die Karten noch viel Kopfzerbrechen bereiten würden. Aber er hatte sich jetzt, nachdem die Abenteuer um Tortuga und die Schlangeninsel überstanden waren, erneut in die Sache verbissen. Er würde nicht lockerlassen, bis er das Geheimnis entschleiert hatte, koste es, was es wolle.
Vielleicht lagerten dort, in dem rätselhaften Land mit den uralten Bauwerken, unermeßliche Schätze. Vielleicht stießen sie, die Männer der „Isabella“, dort auf ungeahnte Phänomene, Neuigkeiten, die der Klärung und Verbreitung bedurften.
Auch Dan O’Flynn war fest entschlossen, das Rätsel der Karten zu lösen. Hartnäckigkeit führte in vielen Dingen zum Ziel, vermutlich auch in diesem Fall.
Der alte Entdeckergeist der Seewölfe war wieder geweckt. Die Wunden der Schlacht um die Caicos-Inseln begannen zu vernarben, das Gewesene gehörte bald der Vergangenheit an. England, das sie schon so lange nicht mehr gesehen hatten, lockte, aber noch stärker war der Drang, nach den eigentümlichen Bauten und der kauernden Wesenheit zu forschen.
Vorderasien, dachte der Seewolf, während er nach neuerlichem Abwägen und Schätzen vom Pult aufstand und auf die Heckgalerie der „Isabella“ hinaustrat, der Orient, möglich, daß dort der Schlüssel zu allem liegt.
Er sah auf das leicht schäumende, auseinanderfächernde Kielwasser hinunter. Wahrscheinlich werden wir einen Abstecher ins Mittelmeer unternehmen, überlegte er, vorausgesetzt, es gerät nichts dazwischen.
Bob Grey und Stenmark waren jetzt auch wieder zum Dienst angetreten. Hasard hatte sie nicht ins Logis zurückgeschickt, da der Kutscher ihm erklärt hatte, die beiden könnten durchaus mit leichteren Arbeiten betraut werden. Demgemäß hatte der Seewolf Bob und den Schweden zum Spleißen von Tauen einteilen lassen, einer Aufgabe, die sie im Sitzen auf der Back versehen konnten.
Viel frische Luft, reichhaltiges Essen, der gewohnte Umgang mit den Kameraden und das Fluchen des Profos’ trugen eher zur Genesung bei als das allzu lange Liegen in der Koje oder Hängematte.
Smoky betrat an diesem Nachmittag zum erstenmal wieder die Kuhl und schaute sich blinzelnd nach allen Seiten um. Die Sonne stach ihm in die Augen, und sie rief sofort wieder das schmerzhafte Zerren und Zukken in seiner Kopfhaut hervor, das ihn während der vergangenen Tage ununterbrochen geplagt hatte – bis zum Mittag dieses Tages.
„Au, verdammt!“ brummte der Decksälteste und faßte sich mit der Hand an den Kopf. „Ist wohl doch noch zu früh. Hölle, aber einen Versuch ist es wert. Soll ich denn unten im Logis vergammeln? Nein, das will ich nicht.“ Etwas unsicher bewegte er sich voran.
Stenmark und Bob Grey hoben die Köpfe und beobachteten ihn über die Balustrade der Back hinweg.
„Hör mal“, sagte Bob. „Er führt Selbstgespräche.“
Der Schwede grinste. „Mann, Mann, ich hab den Verdacht, daß in seinem Gehirnkasten ein paar Bolzen locker sind. Wie das wohl weitergeht?“
„Sprich ein wenig lauter, dann steigt er zu uns ’rauf und weicht uns selbst die Birnen ein.“
Stenmark senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Bloß nicht. Aber sieh mal, wie er schwankt, der gute alte Smoky.“
„Er läuft gleich aus dem Ruder“, sagte Bob respektlos.
Smoky manövrierte zum Steuerbordschanzkleid der Kuhl und hielt sich mit einer Hand an den Leehauptwanten fest. Er holte tief Luft. Das Atemschöpfen ließ das unangenehme Flirren vor seinen Augen aussetzen, das eben begonnen hatte, und auch die dumpfen Kopfschmerzen ebbten etwas ab.
Na bitte, dachte er, nur weiter so. Wird schon klappen.
Blacky, Matt Davies, Batuti, Sam Roskill und die anderen Männer, die gerade Wache auf dem Hauptdeck hatten, sahen verstohlen zu ihm hinüber. Smoky bemerkte es aber doch. Die denken, du bist nicht mehr ganz echt, sagte er sich. Na wartet, ihr Halunken, ihr werdet euch noch wundern.
Auch Carberry hatte jetzt den Decksältesten entdeckt. Er fuhr herum, marschierte quer über den achteren Teil der Kuhl und steuerte auf Smoky zu.
„Was?“ rief er. „Wie? Was willst du denn hier? Wer hat dir die Erlaubnis gegeben, hier aufzukreuzen?“
Smoky verdrehte die Augen ein wenig.
„Der liebe Gott“, erwiderte er mit seltsam veränderter Stimme. „Und Knecht Ruprecht.“
Der Profos blieb stehen und stemmte beide Fäuste in die Seiten. Somit nahm er seine typisch drohende Haltung ein, was bei ihm stets gleichbedeutend war mit aufziehendem Sturm.
„Wer?“ fragte er barsch. „Rede mal deutlicher, du Barsch, es kommt hier so dünn an. Wenn man gegen den Wind spricht, muß man sich anstrengen. Also los, noch mal!“
„Wind?“ wiederholte Smoky scheinbar überrascht. „Wo weht hier der Wind? Kein Lüftchen regt sich, und der Kirchturm steht ganz still.“ Er wies zum Großmast hoch. „Wenn’s windet, wackeln die Glocken, aber die Glocken bummeln nicht.“
Matt, der jedes Wort verstanden hatte, kratzte sich am Kinn. „Bummeln? Bammeln muß es doch heißen, oder?“
„Bimmeln“, verbesserte Sam Roskill. „Das ist doch wohl klar. Mensch, Matt, mach bloß keinen Ärger.“
Blacky wandte sich zu ihnen um.
„Heda!“ sagte er. „Sind bei euch die Schotten auch nicht mehr dicht?“
Matt grinste. Sam verzog ärgerlich das Gesicht, er fühlte sich auf den Arm genommen.
Carberry schien immer noch nicht richtig begriffen zu haben. Er trat noch einen Schritt näher an Smoky heran.
„Mal aufpassen, Mister Smoky!“ brüllte er, um sicher zu sein, daß der große Mann ihn auch wirklich verstand. „Was redest du da von Türmen und Glocken? Was ist das für eine Art, einfach aus dem Logis zu kriechen und blödes Zeug zu faseln? Weißt du, daß ich das melden muß? Hasard hat ausdrücklich verboten, daß du …“
Smoky hob lächelnd die freie Hand. „Ruhig, Gevatter, nicht verzagen. Fürchtet euch nicht, es naht der Tag, an dem die himmlischen Seescharen euch von euren Qualen erlösen.“
„Seescharen?“ Dem Profos sackte der Unterkiefer nach unten. „Ist das dein Ernst? He, Smoky, Mann, weißt du, wer ich bin?“
„Der Wassermann in Person“, zischelte Matt Davies, der genau wie die anderen gespannt die weitere Entwicklung der Situation verfolgte.
„Holla!“ rief Smoky so plötzlich, daß der mächtige Narbenmann fast zusammenzuckte. Smoky deutete auf die Großrah. „Was ist denn das? Ein dicker Ast?“
Carberry schritt zögernd weiter, ließ nun aber die Arme baumeln.
„Erkennst du mich nicht, Smoky?“ fragte er entsetzt. „Siehst du mich überhaupt?“
Smoky hielt seinen Blick immer noch nach oben gerichtet. „Bunte Wimpel flattern in den Baumästen“, erklärte er. „Die Vögel zwitschern in der Frühlingssonne.“
„Es