Seewölfe - Piraten der Weltmeere 108. Fred McMason
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© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-432-6
Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Inhalt
1.
Der Wind hatte aufgefrischt, und seine Kraft schuf in der See lange Wellentäler, in die das Schiff „Fliegende Schwalbe“ sanft hineinglitt und schäumend wie ein Meergott wieder daraus emporstieg.
Der Himmel war blau, doch fern am Horizont stieg eine kleine Wolkenbank in die Höhe, von der man nicht wußte, ob sie wieder verschwand, oder ob sie später Unheil brachte.
Khai Wang, der Pirat, den sie die Geißel des Gelben Meeres nannten, stand mit verschränkten Armen auf dem Mitteldeck der großen Dschunke. Sein Oberkörper war nackt, und jeder Mann an Bord sah die blaulila Tusche-Tätowierungen auf seiner Brust und dem Rücken.
Den Brustkasten zierte ein geflügelter Drachen, der Feuer aus den Nüstern schnaubte. Auf dem breiten Rücken sah man das Kunstwerk einer großen Schlange, die sich ringelte und wand, und deren aufgerissener Rachen gerade einen kleinen Vogel verschlang.
Zwei Jahre hatte es gedauert, ehe diese Tätowierungen komplett waren, und Khai Wang hatte manchen Schmerz ertragen müssen.
Aus diesem Grund trug er die Tätowierungen mit Stolz und genoß es, wenn andere sie staunend anstarrten.
Er warf einen flüchtigen Blick achteraus und registrierte zufrieden, daß das Drachenschiff in seinem Kielwasser folgte. Li-Cheng, der Kapitän des Drachenschiffes, war jetzt sein Verbündeter, nachdem er ihn aufgebracht hatte. Beider Ziel war es, das Schiff „Eiliger Drache über den Wassern“ aufzubringen, es in eine Falle zu locken und dann die Mumie des Mandarins zu rauben, die sich in einem geheimen Versteck an Bord des schwarzen Seglers befand.
Khai Wang traf jetzt die letzten Vorbereitungen.
Auf dem Mitteldeck stand ein großer Bambuskäfig, in dem mehrere silbergraue Tauben herumflatterten. Ihr angestammter Platz war der Verschlag einer kleineren Dschunke vor den Batan-Inseln. Wenn man sie aufließ, würden sie nach einem kurzen Orientierungsflug ihr Ziel sicher und genau anfliegen.
Ein riesiger, von der Statur her ungewöhnlich großer und breiter Chinese stand neben dem Bambuskäfig, in dem sich die Gin-Ling, die fliegenden Diener, befanden. Genauer bedeutete der Ausdruck: Sich durch die Lüfte schwingende Diener, wie Khai Wang sie genannt hatte.
Der riesige Chinese war kahlhäuptig, auf seinem Schädel befand sich nicht die Andeutung eines Haarwuchses. In seltsamen Kontrast stand dagegen der Lippenbart, der breit und wulstig über sein Kinn hing.
Fast jeder Mann an Bord trug einen solchen Bart, manche waren mehr oder weniger gepflegt, einige vernachlässigt und wuchsen ihren Trägern fast in den Mund, wieder andere waren dünnfaserig und sahen wie ausgefranste Tampen aus.
Auch der Steuermann Wu stand neben dem Käfig. Auf seinem Gesicht lag das übliche hinterhältige Grinsen. Wu war etwas untersetzt und die personifizierte Grausamkeit an Bord der Fei Yen, der „Fliegenden Schwalbe“.
Khai Wang hatte einmal lachend behauptet, daß Wu an Reue sterben würde, und zwar an Reue darüber, daß er nicht jede Jungfrau zwischen dem Südchinesischen und Ostchinesischen Meer geschwängert und nicht jeden Gefangenen eigenhändig gehängt hatte. Vielleicht klang das übertrieben, doch wenn man Wu genauer ansah, durfte man das unbesehen glauben.
„Hole einen fliegenden Diener heraus, Wu!“ befahl der gelbgesichtige Piratenkapitän.
„Zu Diensten, Herr!“ Wu verneigte sich, öffnete die Tür des Bambuskäfigs und griff blitzschnell nach einer Gin-Ling. Sie war von silbergrauer Farbe und schnell wie ein Pfeil.
Er hielt die Taube fest in der Hand und hätte gern ein bißchen zugedrückt, aber dann hätte auch Khai Wang, der keinen Spaß verstand, bei ihm ein bißchen zugedrückt, und das Endresultat wäre ein sehr dünner und langer Hals geworden.
„Dreh sie um!“
Der kahlköpfige Chinese öffnete seine riesige Pranke. Darin lagen drei zierliche kleine Windflöten, halb so lang wie ein kleiner Finger und sehr dünn und zerbrechlich aussehend.
Er fischte eine der zierlichen Windflöten heraus und seine klobigen Finger hefteten die Windflöte geschickt an das Schwanzende des fliegenden Dieners. Danach zupfte er ein bißchen daran und stellte fest, daß die Windflöte fest saß. Eine winzige Nadel hatte die Schwanzfeder durchbohrt.
An der Unterseite des Flügels wurde eine zweite Windflöte geheftet. Diese Flöten erzeugten beim Flug schrille heulende Töne und hielten Raubvögel davon ab, sich auf die Taube zu stürzen. Die Töne wirkten auf andere Greifvögel abschreckend.
Khai Wang selbst streifte der Taube einen kleinen Ring mit einer Hülse über den Fuß. Die Hülse enthielt eine Botschaft und genaue Positionsangaben.
„Laß den Diener in die Lüfte steigen, Wu!“
„Ergebenst, hoher Herr!“
Wu warf die Taube in die Luft. Sie zog ein paar Kreise um den Großmars, als wisse sie nicht, wohin sie fliegen solle. Dann aber hatte sie sich orientiert und flog pfeilschnell davon. Schon bald war sie als glitzernder Punkt über der Weite des Meeres verschwunden.
Khai Wang sah ihr versonnen nach.
„Ich wollte, ich könnte auch so schnell und sicher den Weg finden“, sagte er. „Sie braucht keine Instrumente, sie hat ihren Kompaß im Kopf und sie steuert auf direktem Weg ihr Ziel an, ohne Umstände. Die nächste, Wu!“
Dreimal hintereinander wiederholte sich diese Prozedur, die sich in allen Einzelheiten glich. Im Abstand von einer Viertelstunde schwangen sich die fliegenden Diener in die Lüfte, orientierten sich und flogen wie silberne Pfeile davon, einem Kurs folgend, den kein Mensch so exakt zu berechnen vermochte.
Khai Wang war zufrieden.
„Der Sohn des Himmels wird sie beschützen“, sagte er. „Und nun, Wu, soll jeder Mann eine Schale Reisschnaps erhalten. Der Koch soll nicht vergessen, ihn besonders stark zu erhitzen.“
„Es sei, wie ihr befehlt, hoher Herr“, erwiderte der Steuermann unterwürfig.
Knapp zwei Stunden später flog die erste Taube in ihren Verschlag, der sich auf dem Achterdeck einer Dschunke befand. Zwei weitere Dschunken und zwei große, besegelbare Bambusflöße lagen in einer Bucht vor den Batan-Inseln.