Seewölfe - Piraten der Weltmeere 90. Fred McMason
Читать онлайн книгу.nur eine Vermutung“, sagte Ben.
„Natürlich. Vergessen wir den Vorfall. Sag Ferris, er soll nachher noch einmal den Kettenbolzen der Ruderanlage überprüfen, ich möchte keine unangenehmen Überraschungen erleben.“
Tucker war schon ein paar Minuten später an der Arbeit. Ja, der Kettenbolzen hatte es immer noch in sich, dachte er. Schon dreimal war er gebrochen und hatte Schiff und Mannschaft in bedrohliche Situationen gebracht. So schön und bequem die Ruderanlage anstelle eines Kolderstocks auch war, aber sie hatte das, was man als Kinderkrankheit bezeichnete. Von Zeit zu Zeit mußte der Bolzen ausgewechselt werden, er scheuerte durch und brach meist dann, wenn man sich in einer schwierigen Situation befand.
Diesmal war er in Ordnung, wie der Schiffszimmermann feststellte. Er würde eine ganze Weile halten.
Die „Isabella“ segelte weiter mit Backbordhalsen, bis sie zu der Zeit, die Hasard vorausgesagt hatte, das Mündungsdelta des Rio de la Plate erreichte.
Es war kurz nach Mittag. Die Hitze war erträglich, abgemildert durch die frische Atlantikbrise ließ sie sich angenehm ertragen.
Auf Steuerbord dehnte sich hügeliges Land aus, soweit das Auge sah. Nur dem Schiffsjungen Bill schien es, als beschriebe der Atlantik hier einen gewaltigen Knick. Die Wassermassen schienen seiner Ansicht nach rechts abzubiegen, und er fragte sich insgeheim immer wieder, ob man nicht doch mehr nach Steuerbord segeln müßte, wenn man auf dem richtigen Kurs bleiben wollte.
Er enterte zu Dan in den Großmars auf, doch auf halber Höhe blieb er reglos in den Webleinen der Wanten hängen. Sein schmächtiger Körper versteifte sich.
„Auslegerboote!“ rief Dan aus seiner luftigen Höhe an Deck. „Sie halten auf die gegenüberliegende Küste zu. Mindestens fünfzig Boote sind es!“
2.
Es war ein riesiger Pulk, der sich von der Küste löste und mit stark geblähten kleinen Segeln eilig einer anderen Küstenregion zustrebte.
Hasard konnte den Pulk bereits ohne Spektiv deutlich sehen. Auf dem Wasser spiegelten sich die Sonnenstrahlen. Er kniff die Augen zusammen und legte die Hand an die Stirn, an jene Stelle, von der eine langgezogene dünne Narbe bis zur Wange verlief. Merkwürdig, aber er glaubte, die Narbe schmerze heute etwas, doch das war vielleicht nur Einbildung.
„Fünfzig?“ sagte er leise. „Das werden ja immer mehr. Dort scheint ein ganzer Indianerstamm zu flüchten. Aber was veranlaßt sie zu dieser überstürzten Flucht?“
Die Indianer erweckten ganz den Eindruck, als wären sie tatsächlich auf der Flucht. In den Auslegerbooten hockten Männer, Frauen und kleine Kinder.
Bei ihrem hastigen Aufbruch hatten sie der offenen See nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch jetzt entdeckten sie die Galeone, und wie auf ein Zauberwort drehten die Boote ab, diesmal noch eiliger als zuvor.
Hasard griff nun doch nach dem Spektiv und sah hindurch. In den Booten standen Männer, schwarzhaarige Burschen, die nur Lendenschurze trugen und auch nicht tätowiert oder gezeichnet waren.
Immer wieder deuteten sie auf die „Isabella“, brüllten sich etwas zu und zogen Hals über Kopf davon.
Ein sinnender Ausdruck trat in Hasards Augen. Er ließ den Kurs noch ein wenig weiter nach Steuerbord ändern, bis die „Isabella“, näher zur Küste auflief.
Das kleine Manöver bewirkte weiter drüben fast panikartige Zustände. Die Auslegerboote luvten hart an, gingen dann auf Kollisionskurs zur „Isabella“ und fielen ganz überraschend wieder ab.
„Was, zum Teufel, ist denn in diese Burschen gefahren?“ fragte Ben Brighton entgeistert. „Die benehmen sich ja geradezu, als wollten wir ihnen die Hälse durchschneiden.“
Das war das Stichwort für den Seewolf.
„Offensichtlich halten sie uns für Spanier“, sagte er. „Und höchstwahrscheinlich sind sie vor den Dons gerade auf der Flucht. Jetzt benehmen sie sich, als hätten wir sie eingekreist. Sie wissen nicht mehr, wohin sie segeln sollen.“
Das, was für wenige Augenblicke fast wie ein Angriff von seiten der Indianer ausgesehen hatte, erwies sich als nichts anderes als ein Täuschungsmanöver, durch das die Eingeborenen ihren vermeintlichen Häschern zu entwischen gedachten.
Nein, sie waren auf der Flucht, entschied Hasard. Alles deutete darauf hin, ihr ganzes Verhalten, ihre Panik, die Angst, Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen.
Hier, am Rio de la Plata, wimmelte es von Dons, hier hatten sie ihre Nester, Kaffs, Stützpunkte und Siedlungen. Hier raubten sie, plünderten, sammelten Schätze für die spanische Krone und zwangen den Eingeborenen das Christentum auf, das sie gar nicht wollten. In dieser Ecke hatten sich die Spanier wie hartnäckige Zecken eingenistet, und die meisten Ansiedlungen trugen spanische Namen.
Hasard rang sich zu einem Entschluß durch. Er kämpfte lange mit sich selbst und befand sich in einem Zwiespalt der Gefühle.
Einerseits war da die lange Reise, die vor ihnen lag, und die nun schon sooft unterbrochen worden war. Er wollte in den Pazifik segeln, jenem geheimnisvollen Land entgegen aus dem Siri-Tong stammte, dem fernen Land, das ihn immer stärker faszinierte und in seinen Bann zog.
Andererseits gab es hier einen ganzen Stamm verängstigter Eingeborener, die sich auf der Flucht befanden und für die die Spanier eine tödliche Gefahr darstellten.
Sollte er sich überhaupt nicht um sie kümmern und sie ihrem ungewissen Schicksal überlassen?
Der Seewolf dachte in weiten Räumen und malte sich in Gedanken die Zukunft derer aus, die unter dem spanischen Terror zwangsläufig zugrunde gehen würden, die langsam, aber sicher durch die goldhungrigen Dons ihren Lebensraum verloren, und die es eines fernen Tages nicht mehr geben würde.
Sein Gesicht sah merkwürdig hart und verschlossen aus, als er sich dem Rudergänger zuwandte.
Gary Andrews sah den Blick und zuckte unwillkürlich zusammen. Er hat Eis in den Augen, dachte er. Blaues Eis wie jenes, das es weiter südlich als große blaue Berge gab, Kälte, die einen unwillkürlich frösteln ließ.
„Sir?“ fragte er schluckend, obwohl Hasard noch kein einziges Wort gesagt hatte.
Der Wind hatte leicht gedreht. Nur um ein paar Grad war er umgesprungen, aber Hasard wußte, daß er noch weiter drehen würde. Hier, an der Mündung des Silberstromes, geschah das häufig.
„Wir gehen auf den anderen Bug“, entschied der Seewolf. „Halte dich zum Wenden bereit, Gary.“
„Aye, aye, Sir!“
Auf dem Vordeck stand der Profos. Sein gewaltiges Rammkinn war vorgeschoben, die Hände hatte er in die Hüften gestemmt, und so stand er breitbeinig da, lauernd, weil er wußte, daß sich gleich etwas ändern würde. Carberry hatte dafür einen Riecher, er roch es an der Sonne, am Wind und dem salzigen Wasser, lange bevor sich etwas tat.
Auch die anderen spürten es. Seit der Wind leicht gedreht hatte, war noch kein Kommando erklungen, das die Männer an die Schoten und Brassen gescheucht hätte. Und weil der Wind noch weiter drehen würde, war dieses Kommando unausweichlich.
In dem Gesicht Big Old Shanes wetterleuchtete es. Der graubärtige Schmied von Arwenack wußte, was der Seewolf plante, er hätte es genauso getan.
Die Erwartung, die plötzlich in den Gesichtern der Seewölfe stand, wurde erfüllt.
„Klar zum Wenden auf den anderen Bug, Profos!“ klang die Stimme des Seewolfs über Deck.
Carberry rieb sich die mächtigen Hände. Er grinste erfreut.
„So, ihr Rübenschweine“, sagte er laut. „Jetzt gibt’s Abwechslung. Ich will eine Wende sehen, die später in die Geschichte eingeht, was, wie? Ihr seid schon viel zu lange auf Steuerbordbug gesegelt, da werden die Knochen faul, und der Kalk rieselt durch die Gebeine.“
Und