Seewölfe - Piraten der Weltmeere 476. Burt Frederick
Читать онлайн книгу.und die Blendwirkung ließ nach. Das idyllische Flußtal mit den rauschend herabstürzenden Fluten des Wasserfalls war Wirklichkeit. Und in dieser Wirklichkeit existierte kein Scharfrichter, der ihn erst blendete, um ihn dann vermutlich auf grausamste Weise umzubringen. Der Anblick des Flußtales war wohltuend, erleichternd und beruhigend. Denn es verschwand nicht, löste sich nicht in Nebelschwaden auf und ließ auch keine höhnisch grinsenden Visagen auftauchen.
Er sah den Wasserfall. Beinahe schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.
Er war reich!
Unermeßlich reich.
Er mußte nicht sterben, sondern er war dazu ausersehen, ein Leben in Luxus zu führen. Das wirkliche Schicksal meinte es unendlich besser mit ihm als der schreckliche Alptraum.
Ein Freudenschrei war es, der sich seiner Kehle entrang. Er sprang auf und rannte mit ausgebreiteten Armen los, auf den Wasserfall zu. In den staubfeinen Wasserschwaden, die am Fuß der Felswand aufstiegen, brach sich das Sonnenlicht und erzeugte schillernde Farbbögen. Es war ein Anblick überwältigender Schönheit, doch de Escobedo hatte nur den Sims im Auge, den er in fieberhafter Hast erklomm.
Dann erreichte er den Höhleneingang. Feucht und kühl war die Luft, die ihn empfing. Dröhnend hallten seine Schritte von den glitzernden Wänden des Ganges zurück. Dann sah er die ersten Kisten vor sich. Bei Gott, es war noch alles vorhanden. Auch dies war Wirklichkeit, berauschend schön. Alonzo de Escobedo war überzeugt, in dieser Minute der glücklichste Mensch der Welt zu sein.
Er ging ein paar Schritte weiter und erreichte eine abzweigende Höhle, in der die Zahl der Kisten beinahe unüberschaubar war. Don Antonio hatte saubere Arbeit leisten lassen. Alle Behälter, ob Kisten, Fässer oder Truhen, waren in gewachste Leinwand eingeschlagen, damit sie auf diese Weise gegen die Feuchtigkeit geschützt wurden.
Alonzo de Escobedo hatte das Gefühl, auf watteweichen Wolken zu schweben. Er zog sein Messer und stürzte mit einem Freudenschrei zu einem der Behälter. Mit ein paar kraftvollen Rucken schlitzte er das Wachstuch auf.
Eine messingbeschlagene Truhe kam zum Vorschein. Der Deckel war nicht einmal verschlossen, sondern lediglich mit dem Siegel des Gouverneurs gesichert. De Escobedos Augen leuchteten, als er das Siegel zerbrach und erwartungsvoll den Truhendeckel öffnete. Natürlich war dieses Versteck so sicher, daß Don Antonio es sich leisten konnte, auf Vorhängeschlösser zu verzichten.
Das Gleißen blendete den Nachfolger de Quintanillas. Einen Atemzug lang schloß er die Augen, und dann, als er sie wieder öffnete, hatte er den Eindruck, sie müßten ihm aus dem Kopf fallen.
Die Truhe war mit Goldmünzen gefüllt – bis an den Rand.
Minutenlang stand de Escobedo wie erstarrt.
Gewiß, er hatte geahnt, was sich hier verbarg. Es aber jetzt mit eigenen Augen zu sehen und fühlen zu können, war überwältigend.
Fühlen!
Der Gedanke ließ ihn vorstürzen. Beide Hände stieß er tief in die Münzen, schaufelte die unteren nach oben, genoß die Berührung mit dem kühlen Edelmetall und stieß dabei grunzende Laute des Wohlbehagens aus. Es war wie ein Rausch, und wenn die Truhe größer gewesen wäre, hätte er sich ohne jeden Zweifel kopfüber in den Reichtum gestürzt, der jetzt ihm gehörte – ihm allein.
Endlos scheinende Minuten vergingen, bis er ruhiger wurde und zum zweiten Male an diesem Morgen in die Wirklichkeit zurückfand.
2.
Schweigend hatten Jean Ribault und Roger Lutz beobachtet, wie der sehr ehrenwerte Señor Gouverneur gleich nach dem Erwachen erneut zu dem Felsensims hochgestiegen war und sich unter dem Wasserfall an der Steilwand entlanggetastet hatte.
Nur noch das Rauschen der herabstürzenden Fluten war zu hören.
„Scheint so, als ob er ruhiger geworden sei“, sagte Jean Ribault. „Aber ganz richtig im Kopf ist er garantiert nicht mehr.“ Der sonderbare Schrei, den de Escobedo beim Erwachen ausgestoßen hatte, war nicht zu überhören gewesen.
„Der denkt, er sei nicht mehr ganz allein“, entgegnete Roger Lutz mit leisem Lachen. „Jetzt sieht er wahrscheinlich nach, ob in der Nacht jemand was geklaut hat.“
„Oder er will im Gold wühlen“, sagte Ribault lächelnd und wußte nicht, wie recht er hatte.
„Auf jeden Fall ist er immer noch komplett verrückt“, erwiderte Roger Lutz.
„Das würde bedeuten, daß er unberechenbar ist.“ Jean Ribault zog nachdenklich die Stirn kraus, während er unablässig den Wasserfall mit seinen wie aus unergründlicher Tiefe emporsteigenden Gischtschwaden beobachtete.
Roger Lutz bewegte den Kopf bedächtig von einer Seite zur anderen.
„Was er tut, wird er schon wissen. Selbst die verdrehtesten Kerle wissen genau, welcher Kurs richtig ist, wenn es um Zaster geht.“
„Dem kann ich nicht widersprechen“, sagte Jean Ribault. „Aber wie auch immer, wir müssen erst einmal abwarten, wie der Hundesohn sich weiter verhält.“
„Das ist mir schon jetzt völlig klar“, erklärte Roger Lutz. „Der Bursche haut in den Sack. Das kann er sich jetzt leisten.“
„Und wie wird er das deiner Meinung nach anstellen?“
„Ganz einfach. Er wird versuchen, sich in Batabanó ein Schiff zu besorgen. Wenn er das geschafft hat, läßt er den gesamten Schatz dorthin verladen und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Auf den Gouverneursposten kann er mit seinem neuen Reichtum pfeifen.“
„Die Sache hat nur einen Haken“, entgegnete Jean Ribault. „De Quintanilla hat seine Schätze mit Maultierzügen hierherbringen lassen. Man kann sich also ungefähr vorstellen, was für einen Umfang dieses Vermögen hat. De Escobedo müßte ebenfalls Maultierzüge nach Batabanó organisieren, wenn er alles auf die Seite schaffen will. Damit hätte er aber schon wieder Mitwisser am Hals.“
Roger Lutz winkte ab.
„Kein Problem für ihn, wenn er mit denen umgeht wie mit dem Fuhrunternehmer.“
Jean Ribault nickte und lachte leise. Es hatte wenig Sinn, über de Escobedos weiteres Verhalten Mutmaßungen anzustellen. Wahrscheinlich war er wegen seines umnebelten Hirns tatsächlich unzurechnungsfähig.
Die beiden Männer frühstückten von den mitgebrachten Vorräten und warteten ab.
Etwa eine Viertelstunde verging, bis der Kerl hinter dem Wasservorhang wieder auftauchte. Über der Schulter trug er zwei dickbauchige Ledersäcke.
„Der hat es nicht lassen können“, flüsterte Roger Lutz. „Der mußte einfach schon mal zulangen.“
„Vielleicht ist er doch nicht so wirr im Kopf, wie wir denken“, entgegnete Jean Ribault ebenso leise. „Das, was er sich da geholt hat, könnte sein Betriebskapital sein.“
„Für was?“
„Glaubst du, Maultiere und Treiber kriegt er umsonst?“
Roger Lutz bedachte seine eigene Begriffsstutzigkeit mit einem Kopfschütteln.
Alonzo de Escobedo verhielt sich jetzt äußerst zielstrebig, was dem vermeintlichen Nebel im Hirn deutlich widersprach. Nachdem er etwas gegessen hatte, sattelte er sein Pferd, hängte die beiden Ledersäcke über die Kruppe und versteckte sie unter einer Decke. Sorgfältig verwischte er anschließend die Spuren an seinem Lagerplatz, stieg in den Sattel und ritt ostwärts am Fluß entlang.
Die beiden Männer vom Bund der Korsaren folgten ihm geräuschlos und mit dem gebührenden Abstand.
Als de Escobedo jene Stelle erreichte, wo der Fluß nach Süden in Richtung Batabanó abbog, wandte er sich nicht nach rechts, wie es die Verfolger erwarteten. Er lenkte sein Pferd nordwärts auf den Pfad, der nach Havanna führte.
Die beiden Männer verharrten hinter