Seewölfe - Piraten der Weltmeere 327. Roy Palmer
Читать онлайн книгу.der Kammerdiener Burt Harrison und der Adjutant Raymond Keefer zu haben. Anders ausgedrückt: es bereitete ihnen eine sonderbare Art von Vergnügen, Menschen leiden zu sehen.
Als Oliver O’Brien dies registrierte, kannte sein Zorn gegen die Bande, die sich auf seinem Schiff eingenistet hatte, keine Grenzen mehr.
Am 1. Mai 1593 kam es zur ersten offenen Auseinandersetzung. Sir Andrew hatte sich von seinem Achterdecksstuhl erhoben und unternahm einen Spaziergang, bis zur Querbalustrade, blieb stehen und ließ seinen Blick über die Kuhl schweifen. Sofort fielen ihm zwei Seeleute auf, die sich untereinander mit den Ellenbogen anstießen und über irgend etwas lachten, sich dann aber gleich wieder ihrer Arbeit zuwendeten.
„Profos!“ rief Sir Andrew mit näselnder Stimme.
„Sir?“ Der Bulle von Mann erschien auf der Kuhl. Er hatte sich gerade in der Kombüse aufgehalten und einen Blick in die Kessel geworfen, was eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehörte, wozu der Earl ihn aber anhielt. Nicht zu viel Fleisch sollte in der Suppe schwimmen, die da brodelte, ebenso keine zu großen Fettaugen. Rigoros hatte Sir Andrew die „unverantwortliche Vergeudung“ von Proviant eingeschränkt und hielt die Rationen so knapp und mager, daß den Männern von früh bis spät der Magen knurrte. Was der Crew entzogen wurde, landete auf der Tafel im Achterkastell, wo die hohen Herren zu speisen pflegten und sich bedienen ließen.
„Notieren Sie die zwei Kerle dort!“ rief der Earl. „Den mit der Glatze und den mit dem roten Bart! Sie haben über mich gelacht! Daher kriegen sie jeder zehn Hiebe mit der Neunschwänzigen!“
„Aye, aye, Sir“, sagte der Profos mit Donnerstimme und schritt unverzüglich zur Tat. Er war nicht gewohnt, Befehle seines Herrn und Gebieters zu diskutieren, er dachte nie über eine Anweisung nach – er war lediglich das ausführende Organ, der verlängerte Arm des Earls auf Cumberland, dem es nie eingefallen wäre, sich selbst die Hände am „niederen Schiffsvolk“ zu beschmutzen.
Kapitän Oliver O’Brien verließ genau in diesem Augenblick das Achterkastell, rammte das Schott hinter sich zu und trat auf der Kuhl vor die beiden Männer hin, deren Gesichter sich in ungläubigem Entsetzen verzerrt hatten. Der Profos war schon auf drei Schritte heran, aber der Blick, den O’Brien ihm zuwarf, stoppte ihn.
„Mister Jason und Mister Brix“, sagte der Kapitän zu dem Glatzkopf und zu dem Bärtigen. „Ich will aus Ihrem Mund hören, über was Sie gelacht haben.“
„Über einen Witz, Sir“, entgegnete Jason. „Brix meinte, wenn der Sturm, den wir demnächst aufs Fell kriegen, mir schon nicht die letzten Haare vom Kopf reißen könne, so würde er mir aber doch die Glatze polieren. Verzeihung, aber wir haben beide darüber lachen müssen.“
„Sie brauchen sich deswegen nicht zu entschuldigen“, sagte O’Brien. „Auf meinem Schiff ist es noch nie wie auf einem Friedhof zugegangen. Ich lache selbst gern mal mit, wenn jemand eine Posse reißt.“ Er sah wieder den Profos an. „Profos, die Bestrafung findet nicht statt Sie können wieder gehen.“
Der Zuchtmeister wurde dunkelrot im Gesicht. „Ich nehme meine Befehle von Sir Andrew entgegen“, sagte er finster.
„Mister O’Brien!“ rief Sir Andrew vom Achterdeck. „Ich ersuche Sie dringend, sich nicht der Insubordination schuldig zu machen! Außerdem muß ich Sie berichtigen: Dies ist nicht Ihr Schiff, sondern eine Kriegs-Galeone Ihrer Majestät, der Königin von England!“
O’Brien fuhr zu ihm herum. „Ja, Sir, und ich bin für das Schiff verantwortlich. Es hängt von der Mannschaft ab, ob es jemals wieder nach England zurückkehrt. Wenn die Mannschaft unzufrieden ist, läßt die allgemeine Disziplin nach, und das wiederum ist schlecht für das Schiff. Verstehen Sie, was ich meine, Sir?“
„Ja. Sie stellen sich mit diesem Gesindel auf eine Stufe.“
„Sir Andrew“, sagte O’Brien scharf. „So lasse ich über meine Crew nicht reden, und so lasse ich sie auch nicht behandeln. Es steht Ihnen frei, einen entsprechenden Bericht abzufassen, den Sie später bei Hof oder beim Marineamt vorlegen.“
„Das werde ich auch tun, verlassen Sie sich darauf!“
„Aber eins stelle ich jetzt ein für allemal klar“, fuhr der Kapitän der „Vanguard“ unbeirrt fort. „Sie sind der Geschwaderchef und bestimmen den Kurs unseres Verbandes. Was aber vor dem Mast der ‚Vanguard‘ geschieht, ist einzig meine Sache. Ich lasse meine Leute nicht von Ihnen mißhandeln, Sir.“
„Das ist – ungeheuerlich!“ stieß der Earl spitz hervor.
„Eine bodenlose Frechheit“, pflichtete Christopher Norton ihm sofort bei. „Lassen Sie diesen dreisten Burschen doch selber auspeitschen, Sir.“
Auf der Kuhl und auf der Back hatten sich die Blicke aller Seeleute auf Kapitän O’Brien gerichtet. Die Männer rechneten es ihm hoch an, daß er sich derart furchtlos für sie einsetzte – und etwas von der gärenden und schwelenden Wut, die sich immer mehr ausbreitete, bekam nun auch Sir Andrew mit. Blitzschnell stellte er seine Berechnungen an.
Wenn eine Meuterei ausbrach, hatte er mit seiner Clique keine Chance. Die Crew war dreißig Mann stark. Er wollte nicht noch einmal ausgebootet werden wie in der Ostsee – eine solche Demütigung würde er, das wußte er mit Sicherheit, nicht ertragen. Schließlich war er im Grunde seines Herzens ein sensibles Gemüt, wie er sich in diesem Moment innerlich bescheinigte.
Deshalb steckte er zurück und sagte: „Sie werden das noch bereuen, Mister O’Brien. Ich fange sofort mit der Niederschrift meines ausführlichen Berichtes an.“
„Tun Sie das“, sagte Oliver O’Brien. Fast hätte er gegrinst.
Sir Andrew zog sich schmollend in seine Achterdecksgemächer zurück. O’Brien und die Crew hatten Wichtigeres zu tun. Dunkle Wolken ballten sich im Westen zusammen und schoben sich heran. Eine Gewitterfront bildete sich. Der Wind legte zu und wurde böig. Es würde nicht mehr lange dauern, bis tatsächlich ein heftiger Sturm über den Verband hereinbrach.
Der Sturm brauste am 2. Mai mit Orkanstärke von Westen heran und peitschte die See zu haushohen Brechern hoch. Für die „Vanguard“, die „Serapis“ und die „Antiope“ begann die Hölle. Fauchend griff der Wind nach den Luvwanten und Pardunen, in grimmiger Wut schüttelte das Wetter die Masten und das Rigg, und dröhnend rollten die schwarzen Wassermassen gegen die Bordwände der Schiffe an. Der Verband war den Urgewalten der Natur ausgeliefert, bald tanzten und taumelten die Galeonen in den aufgewühlten, gischtenden und schäumenden Fluten.
Blitze zerteilten die dunkle Himmelswand, Donnergrollen begleitete das Heulen und Jaulen des Windes und das Rauschen der See. Sturzbäche ergossen sich auf die drei Schiffe, das Wasser konnte kaum noch durch die Speigatten ablaufen. Verzweifelt klammerten sich die Männer an den längst gespannten Haltetauen fest, glitten aber doch immer wieder auf den Decks aus, die sich in reißende Kaskaden verwandelten.
Oliver O’Brien kämpfte sich auf das Achterdecksschott der „Vanguard“ zu, öffnete es unter erheblichen Mühen und wurde von dem Druck der in diesem Augenblick über das Hauptdeck schießenden Wassermassen in den Mittelgang der Poop befördert. Er stürzte, stieß sich den Kopf und die Schulter, schluckte Wasser, spie es wieder aus und rappelte sich fluchend auf. Dann rammte er das Schott zu und verschalkte es wieder, so gut es ging.
Er bewegte sich wankend durch den Mittelgang nach achtern und erreichte die Kapitänskammer, die er für Sir Andrew hatte räumen müssen. Er selbst bewohnte eine andere Kammer des Achterdecks.
O’Brien öffnete die Tür und sah, daß der Earl und sein Stab vollzählig versammelt waren: Der Erste, Zweite und Dritte Offizier hockten auf dem Rand der Koje, Keefer, Harrison, Snyders und Norton hatten sich um Sir Andrew gruppiert. Längst hatte die Clique das Achterdeck geräumt, wo es schon zu gefährlich für sie geworden war, als sich der Sturm zusammengebraut hatte.
Von seiner Kammer aus hatte der Earl jedoch einen jener unsinnigen Befehle erlassen, die das Schicksal des Verbandes unheildrohend beeinflußten. O’Brien konnte nicht mehr zögern, er mußte etwas dagegen unternehmen, daß die Schiffe