Pandemie! II. Slavoj Žižek

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Pandemie! II - Slavoj Žižek


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Kein Wunder, dass sich freiheitsliebende Liberale für die Ereignisse in Belarus begeistern und darin einen Beleg sehen, dass sich eine gute alte Massendemonstration nicht einmal von den Gefahren des Coronavirus aufhalten lässt. Wenigstens für kurze Zeit geriet die Pandemie in den Hintergrund, und man fühlte sich an ein altbekanntes Szenario erinnert, in dem die Massen „den letzten Diktator Europas“ stürzen – Minsk als das neue Kiew.

      Doch hat diese neu entfachte Hoffnung auf Demokratie auch ihren blinden Fleck. Selbstverständlich sollten wir uns auf die Seite der Demonstranten stellen: Lukaschenko ist ein autoritärer Herrscher mit einem Hang zum Lächerlichen, der sein Land mit eiserner Hand regiert, Oppositionelle ins Gefängnis werfen lässt und Journalisten so gut wie keine Rechte zugesteht – doch kann man ihn nicht vorschnell als jemanden verurteilen, der auf ganzer Linie versagt hat. In dem Artikel „Lukaschenkos schwindendes Geschäftsmodell“ schreibt Benjamin Bidder: „Belarus hat es lange zu bescheidenem Wohlstand gebracht – das reichte schon, um Lukaschenko selbst in Nachbarstaaten hohe Popularitätswerte zu bescheren. Doch sein Wirtschaftsmodell steckt in Schwierigkeiten.“21 Lukaschenko sorgte für ökonomische Stabilität, Sicherheit und Ordnung, was sich in einem Pro-Kopf-Einkommen niederschlug, das im Vergleich zur „freien“ Ukraine um einiges höher und deutlich gerechter verteilt war. Doch ist seine Zeit abgelaufen, da eine seiner größten Einnahmequellen – der Wiederverkauf von günstig erworbenem russischen Erdöl an den Westen – gerade wegen der niedrigen Ölpreise versiegt.

      Die anhaltenden Proteste in Weißrussland sind Versuche, gegenüber dem Westen aufzuholen und dessen liberalen Kapitalismus im eigenen Land als Normalzustand zu etablieren; sie stören sich nicht weiter an den schwerwiegenden Problemen, von denen entwickelte Länder heutzutage heimgesucht werden. Sollten die Demonstranten bekommen, was sie wollen, werden diese Probleme unweigerlich sichtbar werden, sobald sich die anfängliche Begeisterung gelegt hat, und am Ende könnte dabei genauso gut wieder eine Figur wie Lukaschenko an der Macht stehen, die im Vergleich zu ihrem Vorgänger aber noch national-konservativer ist, ein weißrussischer Orbán oder Kaczyński. Man sollte sich daher immer wieder bewusst machen, warum Lukaschenko in den letzten Jahren ziemlich beliebt war: Er wurde gerade deshalb toleriert und in manchen Kreisen sogar akzeptiert, weil er Schutz vor den verheerenden Auswirkungen eines ungezügelten liberalen Kapitalismus (Korruption, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unsicherheit) bot. Die Ausgangslage ist inzwischen klar: Die große Mehrheit will den Tyrannen loswerden. Problematisch wird es erst, nachdem das Volk gesiegt hat: Gegen wen protestiert man in einer Demokratie? Da es keinen klar erkennbaren Tyrannen gibt, ist die Versuchung groß, an einen unsichtbaren Herrn zu glauben, der im Verbogenen die Fäden zieht (zum Beispiel die Juden, die den „Deep State“ kontrollieren). Lukaschenko wird von seinen Anhängern auch liebevoll „Batka“ (Väterchen) genannt, und man muss hier unweigerlich an den Titel eines von Lacans späten Seminaren denken: „… ou pire“ (… oder schlimmer). Lacan erinnert damit an das Wortspiel „le père ou pire“ (der Vater oder Schlimmeres), das sich als eindringliche Warnung verstehen lässt, dass am Ende einer antipatriarchalen Rebellion ein schlimmerer Herrscher als der abgesetzte Patriarch stehen kann.

      Die Proteste, die in den letzten Jahren die Welt erschütterten, verfolgen völlig unterschiedliche Anliegen: Einerseits wird dafür demonstriert, dass eine bislang ausgebliebene demokratische Entwicklung nachgeholt wird; diese Proteste werden von den westlichen Medien gutgeheißen, wie man an Hongkong und Minsk sieht. Andererseits gibt es deutlich besorgniserregendere Proteste, die auf das liberale demokratische Projekt selbst und die ihm eigenen Grenzen reagieren, wie die Gelbwesten, Black Lives Matter und Extinction Rebellion. Die Beziehung zwischen diesen beiden Protestformen erinnert an das bekannte Paradoxon von Achilles und der Schildkröte. In einem Wettrennen mit einer Schildkröte gibt Achilles dem Tier einen Vorsprung von, sagen wir, hundert Metern. Innerhalb kurzer Zeit ist Achilles hundert Meter gelaufen und hat den Startpunkt der Schildkröte erreicht; währenddessen hat die Schildkröte eine viel kürzere Strecke von, sagen wir, zwei Metern zurückgelegt. Achilles braucht dann noch einmal etwas Zeit, um diese Distanz zu laufen, was der Schildkröte die Gelegenheit gibt, sich selbst weiter fortzubewegen; um diesen Vorsprung einzuholen, braucht Achilles abermals etwas Zeit, die Schildkröte aber hat sich währenddessen schon wieder weiterbewegt. Daher muss Achill jedes Mal, wenn er eine Stelle erreicht, an der Schildkröte schon war, eine weitere Strecke zurücklegen, die ihn von der Schildkröte trennt. Wir verändern nun jedoch die zeitlichen Parameter ein wenig: Wenn wir Achilles zweihundert Meter laufen lassen, kann die Schildkröte in derselben Zeit nur vier Meter zurücklegen, was sie weit hinter Achilles zurückwirft. Somit drängt sich uns der folgende Schluss auf: Achilles kann die Schildkröte niemals erreichen, aber er kann sie ohne Weiteres überholen.

      Wenn wir Achilles durch „Demokratiebewegung“ und die Schildkröte durch das Ideal eines „liberalen demokratischen Kapitalismus“ ersetzen, wird uns schnell klar, dass die meisten Länder dieses Ideal nicht erreichen können und dass ihr Scheitern an diesem Anspruch die inhärenten Schwächen des weltweiten kapitalistischen Systems offenbart. Als einzige Alternative bleibt diesen Ländern noch das riskante Unterfangen, dieses System hinter sich zu lassen, was wiederum seine eigenen Gefahren birgt. Mehr noch: Während die Anhänger von Demokratiebewegungen danach streben, mit dem liberalen kapitalistischen Westen gleichzuziehen, deutet inzwischen alles drauf hin, dass die entwickelten Länder des Westens in ökonomischer und politischer Hinsicht gerade selbst in ein neues Stadium eintreten, das man nur als post-kapitalistisches und post-liberales Zeitalter bezeichnen kann – womit selbstverständlich eine Dystopie gemeint ist.

      Yanis Varoufakis hat an einer bemerkenswerten Entwicklung gezeigt, was uns in Zukunft erwarten wird: Als sich jüngst abzeichnete, dass England und die USA einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Einbruch erleiden würden, stiegen die Aktienkurse in diesen Ländern auf ein Rekordhoch.22 Obwohl sich dieses Phänomen zumindest teilweise relativ einfach erklären lässt (ein Aktienindex setzt meistens dann zu einem Höhenflug an, wenn einige wenige Unternehmen wie Tesla oder Google Gewinne verbuchen), ist es symptomatisch für die zunehmende Entkopplung des Geldkreislaufs und der Finanzspekulation von der Produktion. (Dieser Entwicklung entspricht auch der immer stärkere Einfluss eines neuartigen „Subjekts, dem Wissen unterstellt wird“. Wie der Yahoo-Nachrichtenartikel „Warren Buffett über Geist und Körper“ vor Kurzem nahegelegt hat, sind es nicht mehr die großen Wissenschaftler, Künstler oder kreativen Erfinder, denen wertvolle Einsichten zu unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Lebens unterstellt werden, stattdessen hält man inzwischen Investoren für Hüter universeller Weisheiten und holt sich bei ihnen selbst in metaphysischen Fragen Hilfe.) Dies veranschaulicht Netflix auf beispielhafte Weise: Obwohl das Unternehmen Verluste macht, setzt es weiterhin auf Expansion. Die entscheidende Frage lautet daher: In welcher Art von Post-Kapitalismus werden wir eines Tages leben?

      Wie es momentan um die Demokratie steht, zeigen allein schon die Titelgeschichten unserer Medien: In Polen klagen liberale Meinungsführer darüber, dass sie gerade zusehen müssen, wie der demokratische Rechtsstaat zerfällt. In den USA hat Obama gewarnt, dass Trump eine große Gefahr für die Demokratie als solche darstellt. Trump wiederum hat signalisiert, dass er das Resultat der Präsidentschaftswahlen nicht anerkennen werde, falls er nicht die Mehrheit der Stimmen bekommt. Fühlt man sich hier nicht unweigerlich an Lukaschenko erinnert?

      Wünschen wir den Demonstranten in Belarus also alles Glück der Welt: Sollten sie Erfolg haben, wird die Coronakrise mit aller Macht zurückkehren, einschließlich aller dazu gehörenden drängenden Probleme, von ökologischen Schäden bis zum Anstieg der Armut. Sie werden viel Glück brauchen – und Mut.

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