Fundamentalismus – maskierter Nihilismus. Christoph Türcke

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Fundamentalismus – maskierter Nihilismus - Christoph Türcke


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auf bizarre Weise. Die Schriftenreihe wurde zwar 1915 eingestellt, aber es ist durchaus als ihr Nachhall anzusehen, dass sich 1918 eine World’s Christian Fundamental Association bildete. Das fundamentalistische Protestpotential begann sich zu organisieren. Seinen amerikanischen Höhepunkt erreichte es 1925, als in Dayton jenes Gerichtsverfahren lief, das als »Affenprozess« in die Geschichte eingegangen ist. William Jennings Bryan, der 1896 amerikanischer Präsidentschaftskandidat gewesen war, später unter Wilson Außenminister, bis er 1917, als der Kriegseintritt der USA drohte, sein Amt niederlegte – er setzte nun alle juristischen Hebel gegen Darwins Evolutionstheorie in Bewegung. Sie sollte als unvereinbar mit der Lehre von Gottes Schöpfung an allen öffentlichen Schulen verboten werden. Das Gericht gab der Klage jedoch nicht statt.

      Mit dem ganzen Scharfsinn eines modernen Juristen – und Bryan war einer der brilliantesten Anwälte seiner Zeit – auf den Wortlaut der Bibel zu klagen: das ist nicht nur einfach verbohrt. Es ist auch ein Rückgang des artifiziellen modernen Argumentierens an seine anfänglichsten Quellen. Der Daytoner Prozess legt schlagartig die existenzielle, um nicht zu sagen, theologische Tiefendimension allen menschlichen Begründens offen. Warum plagt man sich eigentlich mit Gründen, warum behauptet man nicht einfach bloß? Offenbar, weil man sich mit bloßem Behaupten auf die Dauer nicht behaupten kann. Solange man behauptet, was nicht bestritten wird, etwa dass das Wetter heute gut und das Gras grün ist, ist alles in Ordnung. Behauptet einer aber, dieses Land, Vieh, Haus etc. sei seines, und ein anderer sagt, es gehöre ihm, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder Begründung. Letztere ist eigentlich schon zweite Wahl. Wo man seinen Anspruch ohne Umschweife durchsetzen kann, hat man Begründung nicht nötig. Erst wo man zu große Widerstände fühlt, begründet man, tut man dar, dass einem das Beanspruchte zusteht; man appelliert an ein Recht. Ein solches gibt es erst zwischen ungefähr gleich Starken. Erst zwischen ihnen gedeiht Begründungskultur. Recht haben wollen ist zunächst nichts als Sicherheit haben wollen, das, was einem zusteht, unbehelligt genießen wollen.

      Dazu bedarf es der begründenden Rede, griechisch: logos, im Gegensatz zur bloß erzählenden Rede, mythos. Begründende Rede ist ein Zeichen von Schwäche, aber auch ein Mittel, Schwäche in Stärke zu verwandeln. Logos ist sowohl Substitut der Faust als auch ihre Sublimierung. Er dient sozialer wie persönlicher Beruhigung, Befriedung, Sicherheit. Man argumentiert nicht einfach, um zu argumentieren. Man begründet nicht bloß um des Begründens willen. Wenn wir Erkenntnis wollen, sagt Nietzsche, wollen wir eigentlich etwas anderes: »etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. […] Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: – wie? Ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?«9 Was Nietzsche hier offen legt, daran rührt auf seine Weise auch der »Affenprozess«. Seine Kläger haben etwas vom Sicherheits- und Ruhebedürfnis in allem Erkennen innerviert. Alles Begründen will einmal aufhören, es will sein Ende – sein gutes Ende: ruhen in einer letzten Begründung wie Gott am siebten Tag. Die Sabbatruhe ist das Bild des ans Ziel gekommenen Begründens. Es hängt in der Luft, wenn es keinen letzten Grund gibt. Also muss es einen geben, und sei es, dass man ihn herbeiklagt, gerichtlich darauf besteht, dass es einen Text gibt, der ihn unverbrüchlich verzeichnet: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«.

      Das Ungeheure an Darwin ist, dass er den letzten Grund raubt. Raubt er damit aber nicht auch sich selbst das Fundament? Das haben die Biblizisten nicht versäumt, gegen ihn einzuwenden. Selbst wenn unabweisbar ist, dass alle komplexeren Arten allmählich aus einfacheren entstanden sind: Wo und wie ist dieser Prozess denn in Gang gekommen? Je plausibler die Evolution im Detail, desto rätselhafter wird ihr Anfang. Aber irgendeinen muss sie ja haben. Wäre sie nie losgegangen, dann gäbe es sie gar nicht. Damit wird die Evolutionstheorie in eine alte metaphysische Streitfrage hineingezogen: Hat die Welt einen Anfang oder ist sie ewig? Sie muss einen Anfang haben, sagen die einen. Wäre sie nie in Gang gekommen, existierte sie nicht. Sie kann keinen Anfang haben, sagen die andern. Ein absolut erster Zustand, der kein Davor hat, ist ein Widersinn in sich. Also muss das Umgekehrte gelten: Die Welt ist ewig, denn es gibt keinen ersten Zustand. Doch ewig – kann sie ebenso wenig sein. In einer ewigen Welt ist zu jedem Zeitpunkt gleich viel Zeit verstrichen: eine Ewigkeit. Es gibt kein »Ewig und drei Tage«. Ewigkeit kennt kein Danach. Sie ist nicht steigerbar. Und so stellt sich heraus: Ob Anfang oder Ewigkeit der Welt – beides ist denknotwendig und beides ist denkunmöglich. Jede Seite ist im Recht, sobald sie die andere angreift, und im Unrecht, sobald sie von ihr angegriffen wird. Mit andern Worten: Es herrscht hier jener Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, den Kant die »erste kosmologische Antinomie«10 genannt hat.

      Darwins Frage war allerdings: Wie sind die Arten entstanden? Nicht: Hat die Welt einen Anfang? Auf letztere ließ er sich nicht ein. Er hatte keine Antwort darauf. Ein intellektuell redlicher moderner Mensch hat auch keine Antwort darauf. Daraus schlägt der Fundamentalismus Kapital. Er weiß Bescheid. Die Welt hat einen Anfang, denn Gott hat sie geschaffen. Man muss nur Genesis 1 aufschlagen, da steht es. Das ist natürlich ebenso unseriös, wie wenn man der Evolutionstheorie Recht gibt und dann fortfährt: Also hat Gott die Welt als einen evolutionären Prozess geschaffen.11 Da ist der Empörungsimpuls des amerikanischen Fundamentalismus viel ehrlicher. Er gibt das tief Kränkende der Darwinschen Lehre offen zu. Nicht von ungefähr firmiert sie bei Freud als eine der drei großen narzisstischen Kränkungen, die die neuzeitliche Geistesentwicklung dem modernen Menschen zugefügt hat. Sie ist die Theorie einer grund-, halt- und ziellosen Entwicklung. Und wenn die Naturentwicklung tatsächlich so verläuft, dann hängt nicht nur alle Hoffnung auf ein gutes Ende in der Luft, sondern auch die gesamte geistige Tätigkeit des Begründens. Dann ist es nichts mit dem letzten Grund, der kosmischen Sabbatruhe, auf die alles Begründen hindrängt. Dagegen sträubten sich die amerikanischen Fundamentalisten: trotzig, verhärtet, borniert. Dennoch hat ihr Sträuben etwas Erhellendes. Es legt die Triebstruktur im Begründungsvorgang bloß.

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