Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich

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Stein mit Hörnern - Liselotte Welskopf-Henrich


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Vater weder eine Todesnachricht noch eine Vermisstenanzeige zugestellt worden war. – Alex war gerächt. Esma war nicht mehr. Ob Leo Lee lebendig davongekommen war, konnte Joe nicht sagen. Lee war von seinen beiden Kumpanen abgeschleppt worden, kampfunfähig, ja – tot? Joe wusste es nicht.

      Wenn über die Vorgänge in der Nacht etwas bekannt wurde, glaubte wahrscheinlich kein Richter und kein Geschworener, dass Joe in Notwehr gehandelt hatte. Er hatte sich den Gegnern freiwillig gestellt. Hätte er aber dem Gesindel nicht gezeigt, dass er dem Kampf gewachsen war, hätte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Gegen Gangsterrache war die Polizei noch immer machtlos. Unbewusst wartete Joe jeden Tag darauf, dass das Forschen, Fragen, Urteilen sich fortsetzen würde. Für diese Last auf den Nerven gab es keine Vertrauten. Stonehorns Schwester Margret war die einzige, mit der er hätte sprechen können, aber sie kam nicht zu dem Gelähmten; sie hatte weder Wagen noch Geld, und die junge Frau Queenie Tashina dachte bei den seltenen Besuchen nicht daran, die Schwägerin mitzunehmen. Joe konnte Queenie nicht einweihen; an solchen Geheimnissen zerbrach die Willenskraft der im Elternhaus wohlbehütet Herangewachsenen; das hatte er schon früher erfahren müssen.

      Joe war allein, und er war unruhig. Die Verachtung des weißen Mannes hatte ihn noch weiter aufgestört. In solcher Stimmung traf ihn die Nachricht von Marys Tod.

      Der Brief, den Queenie ihrem Mann geschrieben hatte, kam eines Vormittags an. Joe hatte gefrühstückt, er lag frisch gebettet, und er konnte den Brief schon in einer Hand halten, um ihn zu lesen. Langsam faltete er ihn wieder zusammen. Es merkte ihm zu nächst niemand an, was für eine Nachricht er erhalten hatte. Mary war tot.

      Es war keiner da gewesen, der mit dem Büffelstier fertig wurde. Robert war jung und unvernünftig. Queenie war jung, und sie war eine Malerin. Auf eine Büffel- und Pferderanch gehörte ein Mann, ein Reiter, ein Schütze, gehörte mehr als ein Cowboy, gehörte ein Buffaloboy. Joe wollte heim.

      Die Nachricht von Marys Tod wühlte in ihm. Er hatte Mary Booth nicht als Frau geliebt, obgleich das Kind lebte, das er in einer Zeit großer Einsamkeit und Verlassenheit mit ihr gezeugt hatte. Sie war sein Arbeitskamerad gewesen, immer zuverlässig; sie hatte einen festen Platz in seinem Leben gehabt, schon seit den Tagen, als sie beide Nachbarskinder gewesen waren. »Der Gangster und seine Hure«, hatte Esma geschrieben; der Pfeil hatte eine schwärende Wunde verursacht. Aber Esma war nicht mehr.

      Marys Tod riss in Joe etwas entzwei. Er wollte heim. Der Wunsch war übermächtig.

      Aber er sagte niemandem etwas davon, denn sonst brachten sie ihn in das Indian Hospital, in den Machtbereich von Roger Sligh, und Sligh, M. D., stand vielleicht mit Leo Lee in Verbindung. Wie war Leo zu Slighs Adresse gekommen? Joe wollte sich vor Sligh in acht nehmen. Dieser Arzt hatte kein gutes Gewissen. Warum …? Unsicher. Jede Unsicherheit konnte in solchem Umkreis Tod bedeuten.

      Der Tag neigte sich, es wurde Abend. Das ausgesucht delikate Dinner ging vorüber. Joe wurde in der Klinik abwechslungsreicher und gesünder ernährt als je in seinem Leben, aber das Essen widerstrebte ihm, weil er sich noch immer dabei helfen lassen musste.

      In den ersten Nachtstunden schliefen niemals alle Patienten im Zimmer gleichzeitig. Immer war oder wurde der eine oder der andere wach. Joe aber wollte für sein Vorhaben unbeobachtet sein. Wenn es ihm gelang, zu stehen und zu gehen, konnte er mit Vernunft verlangen, nach Hause entlassen zu werden. Der Entschluss aufzustehen war ein überstürzter Gedanke; vielleicht war er durchaus unwirklich, verrückt. Aber Joe hatte seinen Körper immer auf erstaunliche Art in der Hand gehabt. Er bewegte und beherrschte ihn nicht nur wie jedermann; er konnte reiten, kämpfen, Träume und Schmerzen regieren. Er wollte einen Versuch mit sich selbst machen, wenn es niemand sah. Mary war tot. Er wollte heim. Er musste heimgehen, ehe auf dieser Frauenranch noch mehr Unglück geschah. Er wollte Marys Grab besuchen. Die Träume packten ihn, er wurde ihnen untertan. Er war wie ein Holz, das an zwei Enden brannte. Das Leben in zwei Welten hatte ihn aufgezehrt. Als es schien, dass es endlich aufgehoben werden konnte, hatte es ihn noch einmal gefasst und nahezu vernichtet.

      Mary war das Opfer geworden. Sie war tot, niemand brachte ihr Leben wieder. Er wollte heim. Er wurde gebraucht.

      Als Mitternacht vorüberging und endlich alle Mitpatienten fest schliefen, auch kein Besuch der Nachtschwester mehr erwartet werden konnte, machte Joe King den gewagten Versuch mit seinem Körper. Er führte alle Bewegungen aus, die ihm erlaubt waren, einige, die ihm nicht erlaubt waren, die er aber schon hin und wieder versucht hatte, und endlich wälzte er sich aus dem Bett und gelangte auf die Knie und Ellenbogen. Es war für ihn ein Augenblick der köstlichsten Befreiung, obgleich er wie ein Tier auf allen vieren stand.

      Er war aus dem Bett hinausgelangt, aus eigener Kraft und ohne zusammenzubrechen. Kein Arzt hätte ihm das schon zugetraut oder es ihm erlaubt. Sein Herz klopfte, sein Puls ging rasch, er atmete hastig. Aber er durfte sich keine Zeit lassen. Wenn jemand im Zimmer erwachte, würde sein Experiment abgebrochen und zuschanden gemacht werden.

      Er wollte sich aufrichten und auf den Füßen stehen.

      Was für ein Gedanke, wieder ein Mensch zu sein.

      Traum – phantastischer Traum –, wieder auf den Füßen zu stehen. Heimgehen. Joe bot alle Phantasie und alle Willenskraft auf, um seinen Nerven und seinen Muskeln zu befehlen, was sie zu tun hätten. Es gelang ihm, sich aufzurichten. Er atmete tief. Mit Vorsicht hielt er das Gleichgewicht. Vom ganzen Körper rann ihm der Schweiß. Während er die Tropfen laufen fühlte, musste er daran denken, dass Schweiß roch. Doch würde davon niemand aufwachen.

      Joe versuchte zu gehen. Er hielt sich nicht fest. Er schaute geradeaus auf die Tür, fasste einen Punkt ins Auge und wagte den ersten Schritt … die Gewalt der Hoffnung zog ihn … den zweiten Schritt … den dritten Schritt.

      Ein Schmerz wie ein elektrischer Schlag durchzuckte ihn. Er stürzte, fiel ausgestreckt zu Boden und spürte, dass sein Kopf gegen etwas Hartes geschlagen war. Doch blieb er bei Bewusstsein und konnte seine Schmerzen empfinden. Während er am Boden lag, ohne sich zu rühren und ohne zu rufen, dachte er: Jetzt kommen sie wieder, sie fassen mich wieder an, sie werden mich schelten und mir gute Lehren erteilen wie einem ungezogenen Kind. Ich bin ihr Gefangener. Es ist schlimmer als Gefangenschaft. Ich weiß nicht, ob ich es noch einmal ertragen kann.

      Durch den Korridor kamen eilige Schritte näher. Das dumpfe Geräusch des Falls war zu hören gewesen. Die Tür wurde geöffnet, die Nachtschwester erschien.

      Sie stieß einen kleinen Ruf der Überraschung und des Schreckens aus und holte Hilfe.

      Der Assistenzarzt kam.

      »Mr King! Was machen Sie nur! Warum klingeln Sie nicht, wenn Sie etwas brauchen?«

      Der Assistenzarzt alarmierte zwei Krankenwärter.

      Der wieder hilflos gewordene Körper wurde auf eine Trage gehoben und in das Operationszimmer gebracht. Er wurde geröntgt und neu geschient. Chefarzt Miller selbst kam; er war von seinem Patienten enttäuscht und zeigte sich ungehalten. Aus der Hülle wortkarger Autorität, mit der Miller Patienten und Personal zu regieren pflegte, brach eine ungewohnte wortreiche Rücksichtslosigkeit.

      »Wir haben geglaubt, dass Sie ein Mann und vernünftig seien, Mr King. Werden Sie nicht ein hysterisches Weib. Sollen wir Sie anbinden? Ich habe schon Unannehmlichkeiten genug durch Sie gehabt – keine weiteren mehr, bitte, sonst muss ich Sie an das Indian Hospital zurücküberweisen, das für Sie als Reservationsindianer zuständig ist. Was für ein Unverstand! Seien Sie froh, dass der Ausflug Sie nicht das Leben gekostet hat.«

      Joe war versucht zu sagen: Hätte er’s doch. Aber er schwieg, um nicht weitere Predigten in Gang zu bringen.

      Wenn er hätte tun dürfen, wonach ihm zumute war, so hätte er geweint. Seine Nerven waren nach der Höchstspannung schlaff. Aber er erlaubte sich selbst nicht, Reue und Schwäche zu zeigen. Genug, dass er wieder in der großen Schiene liegen und am nächsten wie an den folgenden Tagen nicht nur bedient werden musste wie zu Beginn, sondern dass dies unter der Begleitmusik vieler Worte der Mitpatienten und der Schwestern geschah: »Wie kann man denn …«

      Man hatte gekonnt.

      Es war schwer für Joe, sich so weit aufzuraffen,


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