Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich

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Stein mit Hörnern - Liselotte Welskopf-Henrich


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Person eine Schicht bestehen zu lassen, unterkühlt und unberührbar wie flüssige Luft. Diese Schicht bestand. Sie hielt sich jetzt gegen den Willen des Chefarztes. Sie behinderte sein klares Erkennen. Roger Sligh, M. D., wurde rauher, als es einem Arzt konventionellerweise zukam. Sein Verhältnis zu den Angestellten des Hospitals verschlechterte sich, wenn auch nur leise, mit unmerklichen, unkontrollierbaren Schritten. Er suchte Anschluss an die wenigen Personen, mit denen zu verkehren ihm sein Dienstgrad gestattete: an den höchsten Verwaltungsbeamten der Reservation, den Superintendenten, an dessen Stellvertreter, an den Oberarzt der Entbindungs- und Säuglingsstation, der kurz nach Roger Sligh neu eingestellt worden war, auch an den Verwaltungsdirektor des Hospitals. Sie alle waren Weiße. Sligh wurde in das Haus des Superintendenten eingeladen. P. Hawley und seine Frau repräsentierten südliche, halbfeudale Kultur, ein relativ hohes Niveau literarischen und künstlerischen Verständnisses; in ihrer Privatbibliothek fanden sich Seltenheiten. Mr und Mrs Hawley fühlten sich in der nördlichen Prärie als Verbannte und fanden sich mit Sligh, M. D., zu Gesprächen über Reisen, Länder, Völker und auch über die von Sligh gern angeschnittenen psychiatrischen Probleme zusammen. Die Ablenkung, die Sligh dadurch fand, war unvollkommen; die Thematik lag dem Ausdruck jener Augen, die er vergessen wollte, zu nahe. Der stellvertretende Superintendent Nick Shaw war glatt poliertes Holz. Der Arzt konnte sich mit ihm und seiner kirchlich aktiven Frau unterhalten, ohne an das zu denken, wovon er plauderte. Der Verwaltungsdirektor Walker hatte keine anderen Interessen als Wagen und Whisky. Der Oberarzt der Entbindungsstation stand den Eingeborenen näher, als Sligh das zu bemerken liebte.

      Auf der Reservation gab es weder große Sportveranstaltungen noch Theater, noch Kino, noch Restaurants, noch Klubs, noch gute Läden; es gab keine Tennisplätze, kein Golf- und kein Pologelände, keine fischreichen Flüsse oder Seen und keinen Wassersport, keine Berge, keine Seilbahnen, keine Wälder, kein Jagdrevier. Die Angehörigen der Verwaltung und des Gesundheitsdienstes blieben in ihrer Freizeit in einer für Sligh doch schwer erträglichen Weise auf sich selbst und den Fernseher angewiesen. Die Reservation erschien als ein abgelegener, einsamer, unfruchtbarer, von einem primitiven Volk dünn besiedelter Fleck in einem Land größten industriellen Fortschritts. Man widmete sich der nun einmal gegebenen nationalen Aufgabe, Wilde zu erziehen, oder man hatte ganz einfach keinen besseren Job gefunden. Sligh fühlte sich in dieser Gesellschaft als ein odd ball, ein Außenseiter, ohne es sich anmerken zu lassen.

      New City, mit einem schnellen Wagen einen Tagesausflug entfernt, zeigte sich als eine aufstrebende Stadt mit Erfolgsaussichten, noch ohne viel Geschmack oder kulturellen Ehrgeiz. Sligh war mit seinen vierzig Jahren schon zu alt, um Tanzetablissements aufzusuchen. In einer Cafeteria fühlte er sich verloren und gelangweilt. Das Restaurant des besten Hotels sagte ihm nichts, was seine Gedanken hätte beschäftigen können. Die zurückhaltend-deutlichen Blicke der Haushälterin belehrten den Arzt, dass er allmählich als ein verschrobener, nur durch angepasste Weiblichkeit noch zu heilender Junggeselle zu gelten begann. Doch gab es in den Agenturfamilien keine Töchter, die in Frage kommen konnten. Alte briefliche Verbindungen schliefen allmählich ein. Den Umgang mit unbekannten Damen scheute Roger Sligh. Es war möglich, dass der Erpresser in New City auf sein Opfer lauerte.

      Sligh spielte zuweilen mit dem Plan, sich wieder versetzen zu lassen. Doch schien es nicht angemessen, bei der Gesundheitsbehörde jetzt mit einem solchen Ansuchen vorzusprechen. Das hätte eine Aufmerksamkeit auf die Person des Arztes gelenkt, die er nicht herbeizuziehen wünschte.

      Aus der orthopädischen Klinik kam die Nachricht, dass der allgemeine körperliche Zustand des Patienten J. King zu wünschen übrig lasse, wohl eine Folge der künstlichen Ernährung. Doch habe sich in Bezug auf die Bewegungsfähigkeit ein erster Erfolg der Operation und des anschließenden langwierigen Heilungsprozesses gezeigt. Der Patient empfinde offenbar ein Bein wieder und könne einige Zehen schon bewegen. Sligh rief den Arztkollegen Miller an.

      »Spricht der Patient?«

      »Der Unterkiefer rührt sich noch nicht.«

      »Wie erklären Sie sich das? Hängt es mit den Verletzungen der Wirbelsäule und der Bewegungsnerven zusammen?«

      »Glaube ich nicht. Eher Schockwirkung oder haarsträubend konsequent simuliert.«

      »Diagnose also noch unsicher?«

      »Leider. Ich habe alle üblichen Mittel angewandt, Überraschungsmanöver, List … Der Patient liegt mit anderen zusammen, von denen ihn zwei beobachten. Wenn er simulieren sollte, so hat er jedenfalls sich selbst ausgezeichnet in der Hand. Er hat sich noch nicht ein einziges Mal verraten. Nicht einmal im Schlaf! Ein indianischer Yogi.«

      »Was kann er gegebenenfalls bezwecken?«

      »Selbstmord. Auf die einzige Weise, die ihm noch freisteht.«

      »Lassen Sie das zu?«

      »Ich arbeite mit allen Mitteln dagegen.«

      »Was ist Ihr allgemeiner Eindruck?«

      »Sie haben mich überrumpelt, Sligh, und mir einen Gangster in meine Klinik gelegt. Die Polizei war gestern da. Glücklicherweise in Zivil und vorangemeldet, so dass ich Ihren Patienten für die Vernehmung isolieren konnte. In meiner Klinik ist nichts von der Sache durchgedrungen.«

      »Sie selbst haben der Vernehmung beigewohnt?«

      »Aus medizinischer Rücksicht, da Lebensgefahr eintreten konnte.«

      »Ist herausgekommen, wo er den letzten Tag beziehungsweise die letzte Nacht vor seinem Zusammenbruch verbracht hat?«

      »Ja. Das hatte die Polizei bereits festgestellt. Er war bei seinem Freund Russell, dem Verkäufer von Cowboykleidung, bei seiner Schwester in den Slums von New City und bei Krause, dem Büchsenmacher. Russell und Krause sind als durch und durch solide Existenzen bekannt.«

      »Aber die Schwester?«

      »Eine jetzt reputierliche Frau. Der Mann hat endlich wieder einmal Arbeit – als Holzfäller –, die Kinder gehen sauber gekleidet, sie lernen in der Schule fleißig. Diese Margret Marquis soll zufrieden und von heiterer Gemütsart sein. Da ist also nichts herauszuholen. Nichts von Belang.«

      »Warum hat die Polizei den Patienten überhaupt vernommen? Was wollte sie herausbringen?«

      »In der Nacht, in der King bei Krause war, sind zwischen Krauses Werkstatt und dem Berghotel, in Wald und Busch, Schüsse gefallen; eine Hotelangestellte hat sie gehört und darüber ausgesagt.«

      »Was soll das mit King zu tun haben?«

      »Schüsse in der Nacht und ein vorbestrafter Meisterschütze in der Nähe, der stets mit Pistolen bewaffnet umherläuft – das genügt wohl für Verdacht und Vernehmung.«

      »Ergebnis des Verhörs?«

      »Gleich null. King kann ja weder sprechen noch schreiben.«

      »Warum haben Sie ihn nicht von vornherein als vernehmungsunfähig gelten lassen?«

      »Weil er das nicht wollte. Mit den Augen kann er zu mir sprechen.« Sligh zuckte bei den Worten »mit den Augen sprechen« unwillkürlich zusammen.

      »Aber ist es nicht merkwürdig, dass er verhört werden und sich selbst diese Gefahr und Anstrengung nicht ersparen wollte?«

      »Nicht merkwürdig, sondern kalt gedacht, meine ich. Wenn er an der Schießerei beteiligt gewesen sein sollte – so hat er aus den Fragen der Polizei kombinieren können, was man bis jetzt herausgefunden hat. Der Bursche ist ja nicht dumm. Wenn Sie mich nach meinem allgemeinen Eindruck fragen: Ich halte ihn für ein gefährliches Subjekt, dabei für einen ausgezeichneten Patienten, da man sich auf seine Willenskraft und Disziplin auch im Heilungsprozess wird verlassen können. Man muss ihn nur dafür gewinnen, dass er wieder bewegungsfähig zu werden wünscht. Vielleicht stellt er sich jetzt von Tod auf Leben um, nachdem er weiß, dass man noch kein Material in der Hand hat, um ihn in den Kerker oder auf den elektrischen Stuhl zu bringen.«

      »Entschuldigen Sie, Miller, wenn ich Ihnen mit dieser Rothaut Scherereien gemacht habe, ich konnte das nicht voraussehen.«

      »Bitte. Der Fall ist medizinisch interessant, einfach extraordinär.


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