Die zweite Reise. Jannis B. Ihrig
Читать онлайн книгу.geschützt hatte.
Und jetzt, in diesem friedlichen Moment, schlug er aus. Der Skorpion überlegte nicht lange und verschwand in seiner Höhle. Dies war unnötig, da das gefährliche Objekt gut einen Meter entfernt einschlug. Jedoch wurde dabei viel Sand aufgewirbelt, weshalb dem Skorpion dank seiner Flucht Sandkörner im Auge erspart blieben. Jetzt schaute er verwundert aus seinem Bau auf das, was vor seiner Höhle eingeschlagen war, ähnlich einem Menschen, in dessen Garten gerade ein außerirdisches Raumschiff niedergegangen war. Das Objekt bestand aus irgendeinem Metall und war stark beschädigt. Der Skorpion sah neugierig nach oben, doch er konnte nur mehrere weiße und schwarze Striche am Himmel erkennen.
„Hier Aufklärer 4, der Feind nähert sich. Sie durchlöchern den Himmel mit Flugabwehrraketen. Sie haben Aufklärer 3 und 5 erwischt und ich hätte es auch fast nicht geschafft. Bitte um Erlaubnis, zur Basis zurückzukehren.“
„Hier Kommandozentrale, Landeerlaubnis erteilt. Kehren Sie zur Basis zurück. Jetzt übernehmen die großen Jungs die Arbeit.“
Der Pilot des Aufklärungs-Senkrechtstarters atmete erleichtert auf. Ihm war vorher bewusst gewesen, dass es sehr gefährlich werden würde, wenn man als Aufklärer die Feindarmee suchen musste. Vor allem, wenn sich das Radar aufgrund von Störsignalen als nicht verwendbar erwies. Doch die Größe des Feindes war gigantischer als gedacht. Dem Anschein nach könnte sich das schlimmste Gerücht bewahrheiten. Die Putschisten hatten tatsächlich drei Viertel der eine halbe Million starken Armee auf ihre Seite gezogen, entweder durch Überzeugung oder durch die Gehirnwäsche der Dämonen. Auf jeden Fall hatte ein Begrüßungskomitee, bestehend aus Luftabwehrraketen, die drei Aufklärer erwartet und nur einer schwer beschädigt mit seinem Senkrechtstarter entkommen können.
Obwohl die noch sichere Stadt mitsamt der Luftbasis näher kam, war der Soldat immer noch nervös, denn der Senkrechtstarter gab Geräusche von sich, die man als Pilot nicht hören wollte, und war schwer beschädigt, da er von zwei Raketen getroffen worden war. Und nun ertönte ein Geräusch, das der Pilot ebenfalls nicht hören wollte. „Scheiße!“
Dies umschrieb seine neue Situation vortrefflich. Denn laut seinem Kurzstreckenrader verfolgten ihn plötzlich drei unbekannte Flugobjekte, die der Bordcomputer mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer Größe und Geschwindigkeit als feindliche Senkrechtstarter identifizierte. Noch waren sie zu weit weg, um ihre Waffen einzusetzen, doch sie würden nur ein paar Minuten brauchen, um in Feuerreichweite zu kommen.
Dem Piloten blieb nichts anderes übrig, als zu beschleunigen, um die Entfernung zur sicheren Basis zu überbrücken. Es war riskant, da der Senkrechtstarter auseinanderzufallen drohte und nun noch mehr belastet wurde – so, als würde man einen schwer verletzten Menschen dazu zwingen, einen übermenschlichen Sprint hinzulegen. Doch die Verzweiflungstat zeigte Wirkung. Wenige Sekunden später konnte der Pilot bereits die Stadt New Paris sehen. Und mit ihr den Luftwaffenstützpunkt samt rettenden Luftabwehrstellungen. Schon jetzt drehten sich die automatischen Luftabwehrraketenwerfer und jagten zielsicher Raketen an dem Aufklärer vorbei in Richtung des Feindes.
Währenddessen versuchte der Pilot, seinen Flieger zu senken, doch die Maschine reagierte nicht. Dem Piloten stockte der Atem, als er erkannte, wo das Problem lag. Das Steuerungssystem für die Düsen, die für Höhenänderungen zuständig waren, musste ausgefallen sein. Tatsächlich lag das System, ohne dass es der Pilot wusste, im Vorgarten eines Skorpions, der sich immer noch wunderte. Ohne Kontrolle über diese Düsen konnte der Pilot nicht sicher landen.
„Scheiße, ich habe das Steuerungssystem für Höhenänderungen verloren! Ich muss einen Notabsturz einleiten!“, funkte er gehetzt. Er wartete nicht auf die Antwort und drückte den Knopf für einen kontrollierten Notabsturz.
Jetzt übernahm der Computer die Kontrolle über den Senkrechtstarter und arbeitete seine Checkliste ab: „Schleudersitz vorbereiten.“ Der Sitz schob sich mehrere Zentimeter von den Armaturen weg, dann umhüllten Platten den Körper, sodass sich ein gepanzerter Anzug um den Piloten bildete. Zusätzlich wurden Sauerstoffflaschen mit angeschlossener Atemmaske am Sitz befestigt. Dies sollte das Atmen in dünnen Atmosphären ermöglichen, war aber diesmal natürlich überflüssig.
„Check! Pilot in Sicherheit bringen.“ Die Düsen des Sitzes aktivierten sich, während gleichzeitig das Cockpitdach abgesprengt wurde, was den Piloten herausschleuderte.
„Check! Sicherer Absturz.“ Der Computer steuerte den Senkrechtstarter von der Stadt weg. Weit genug von der Stadt entfernt, schaltete der Computer den Antrieb aus und der Senkrechtstarter stürzte zum Wüstenboden herab und explodierte. Wie durch ein Wunder blieb der Computer noch halbwegs intakt, sodass er ein letztes „Check!“ ausspuken konnte, bevor er sich für immer abschaltete.
New Paris war bei Weitem keine Kulturstadt mit historischen Gebäuden wie das originale Paris. Genau genommen gab es fast keine Kultur, abgesehen von ein paar Museen mit Kunstgegenständen von der Erde und mit historischen Exponaten aus den Anfangszeiten der Kolonie. Den Namen hatte New Paris allein deshalb bekommen, weil in diesen Museen hauptsächlich Ausstellungsstücke aus dem alten Frankreich präsentiert wurden, unter anderem die „Mona Lisa“. Ansonsten war New Paris eine gewöhnliche Baukastenstadt, nach demselben Prinzip gebaut wie alle anderen Städte der Kolonie. Es gab mehrere kreisförmige Hauptstraßen, die durch Nebenstraßen miteinander verbunden waren. Die Gebäude standen zwischen den Hauptstraßen.
Beziehungsweise hatten gestanden. Auch wenn der Feind noch weit weg war, so war er doch nah genug, um die Stadt mit Artillerie zu bombardieren. Stolze Wolkenkratzer waren bereits zerstört worden und hatten ganze Viertel unter sich begraben. Schutzschilde gab es nur für wenige militärische Gebäude wie den Flughafen.
Jedoch hatten alle Koloniestädte noch eine zweite Besonderheit, was ihre Bauweise anging. Die gesamte wichtige Infrastruktur lag unter der Erde: Straßen, die aus der Stadt hinausführten, Schienennetze für die Magnetschwebebahnen, Krankenhäuser, Feuerwehren, Polizeistationen, Kraftwerke – einfach alles, was eine Stadt zum Funktionieren brauchte. Auf der Oberfläche selbst befand sich das in Kriegszeiten Entbehrliche wie Freizeiteinrichtungen, Kaufhäuser und Wohnmöglichkeiten. Für die Einwohner existierten tief unter der Erde Bunker, die zwar schlicht waren, aber alles boten, was man zum Leben brauchte, wenn die Stadt belagert und vor allem beschossen wurde. Und das wurde sie auch, weshalb die Einwohner sich nun in diesen Bunkern befanden, während die Soldaten sich oben zwischen den Ruinen und unzerstörten Gebäuden verschanzten, um die Stadt gegen den anrückenden Feind zu verteidigen. Gleichzeitig wurde die unterirdische Evakuierung der Zivilbevölkerung über das Schienennetzwerk vorbereitet. Zusätzlich belud man die Magnetschwebezüge mit wichtigen Gütern, um sie in Richtung Norden zu den Städten in den Bergen zu schicken.
Der Frontverlauf zwischen den Putschisten, die sich mit den Dämonen verbündet hatten, und den Loyalisten, die für die alte Regierung kämpften und sich um ein Bündnis mit den Urvölkern Locondias bemühten, war folgender: Während die Verräter den Süden der Kolonie, also den Großteil der Städte, die in der Sahara lagen, kontrollierten, konnten sich die Loyalisten im Norden in den teils unterirdischen Bergstädten, die aufgrund ihrer Lage gut geschützt waren, verschanzen. Das bedeutete, dass die Putschisten acht der dreizehn Städte, nämlich New Berlin, New Washington, New Peking, New Rom, New London, New Kairo, New Tokio und New Moskau, in ihrer Gewalt hatten, während die fünf verbliebenen Städte New Madrid, New Seoul, New Ottawa, New Brasilia und New Paris in der Hand der Loyalisten waren.
Die Städte im Süden waren zuerst entstanden, wogegen die Bergstädte sich später aus Minenkomplexen, die die Bergarbeiter mit ihren Familien beheimateten, gebildet hatten. In diesen Bergen wurden vielfältige Rohstoffe, teils altbekannte wie Silber, Gold oder Kupfer, teils aber auch neuartige wie Hydraeisen, abgebaut. Es war schon ein großes Naturwunder, was man so alles in diesem Gestein finden konnte. Aus den Minenkolonien hatten sich erst in den letzten hundert Jahren richtige Städte entwickelt, nachdem immer mehr Arbeitskräfte dorthin gezogen waren, weil der Rohstoffbedarf der Kolonie stetig wuchs. Durch die Varianz in der Entstehung von Nord und Süd hatte sich auch ein leichter kultureller Unterschied entwickelt.
Wegen der Aufteilung der Kolonie in Nord und Süd war New Paris eine besondere Stadt. Sie wurde gern als „Kind von Nord