Heimkehr zu den Dakota. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн книгу.Querkopf, der mir einmal das Leben gerettet hat ...«
»Der – dir ...?«
»Alte dumme Geschichte.« Joe wusste nicht, dass er die gleichen Worte gebrauchte wie kurz zuvor Red Jim. Er zögerte etwas und entschloss sich dann weiterzusprechen. »Damals bei der Strafexpedition gegen die Bärenbande ist’s geschehen. Harrys jüngerer Bruder, der noch in den Zelten lebte, ein halbes Kind, ging mit dem Messer auf mich los. Ich war darauf nicht gefasst, aber Harry stieß ihn im letzten Augenblick nieder. Vielleicht haben ihn die Augen des Vaters dazu gezwungen. – Lassen wir das!« Joe, der das Unverständnis und das Misstrauen im Gesichtsausdruck des jungen Henry bemerkt haben mochte, brach ab. »Harry soll heute Abend kommen«, bestimmte er nur noch. »Sag ihm einen schönen Gruß von mir, und die Feier gehört zum Dienst.«
»Gut, dann weiß ich Bescheid.« Henry zog mit verwirrten Empfindungen ab, und zur Beruhigung versah er sich dabei noch mit einer Zigarre aus Joes Vorrat.
Schnellen Schrittes ging Henry zunächst noch einmal in die Küchenbaracke. Ein selbstbewusster Koch regierte hier die Kessel und die Küchenfrauen, unter denen sich auch drei Negerinnen und eine alte Indianerin befanden. Henry begegnete Charlemagne, der eines der weißen Küchenmädchen angesprochen hatte und trotz der hinausweisenden Blicke des Kochs zähe die Unterhaltung fortzusetzen trachtete.
»Also gut!«, rief das Mädchen schließlich, »aber jetzt mache, dass du hinauskommst!«
Charlemagne zwirbelte befriedigt seinen Knebelbart, nickte Henry wie einem alten Bekannten zu und stolzierte ab.
Henry ließ sich vom Koch noch einmal bestätigen, dass dieser von der Lagerverwaltung alles Gewünschte erhielt, und verließ wieder die Küchenbaracke, um am Rande des Stationslagers das Indianerzelt aufzusuchen, das Top und Harry als Behausung diente.
Henry schlüpfte durch den Zelteingang hinein. Er traf Harka an, der sich offenbar auf seiner Büffelhautdecke ausgestreckt gehabt hatte, jetzt aber den Hereinkommenden schon wieder stehend begrüßte. Henry, fünfundzwanzig Jahre alt, war um einen Kopf kleiner als der lang gewachsene siebzehnjährige Indianer. Der junge Ingenieur hatte sich sonst nicht mehr viel um den Kundschafter gekümmert. Er hatte ihm hin und wieder ein Buch verschafft, wenn Harry sich im Lesen üben wollte, und er hatte ihm Landkarten besorgt im Austausch gegen Felle. Aber das waren äußerliche, versachlichte Beziehungen geblieben. Jetzt, am letzten Tag, den Henry in der Prärie verbrachte, schaute er den Indianer etwas aufmerksamer an. Das Gesicht dieses Burschen war nicht das eines jungen Menschen. Die gut ausgebildete Stirn, die gebogene Nase und die gesamte Knochenbildung traten überdeutlich hervor, da das Gesicht mager war. Die Augenlider blieben immer gesenkt bis auf einen schmalen Spalt, der dem Sehvermögen, aber keinem Ausdruck Raum gab. Henry fühlte sich diesem jungen Mann gegenüber fremd. Die ungeklärten Vorstellungen und Gerüchte, »bester Kundschafter« oder »Verräter«, »Lebensretter« und »Brudermörder«, konnte der Jungingenieur in seine mehr oberflächliche als tiefe Denkweise und in seine plätschernden Gefühle nicht einordnen; er fand keinen Kontakt zu Harry.
»Joe Brown lädt dich und deinen Vater zu der Abschiedsfeier heute Nacht ein. Diese Feier gilt als Dienst«, sagte er in etwas schnoddrigem Ton.
Der Indianer ging auf diesen Ton nicht ein. Er sprach kurz und gemessen: »Im Dienst trinke ich nicht. Ich trinke überhaupt nicht. Es wird also Ärger geben, wenn ich komme, aber wenn Joe Brown es so haben will, werde ich da sein – falls auch mein Vater es wünscht.«
»Wann kommt denn Top zurück?«
»Abends.«
»Gut! Wir erwarten euch, sobald der Zug glücklich eingelaufen ist.«
Henry ging lieber wieder hinaus, als er hereingekommen war. Er hatte nicht nur wenig Sympathie für Harry. Er hatte auch im Hintergrund des Zeltes ein Wesen sitzen sehen, vor dem ihm graute. Es schien eine Indianerin zu sein. Vielleicht war sie alt, vielleicht war sie noch jung. Ihr Gesicht wirkte weder menschlich noch unmenschlich; es wirkte außermenschlich. Ohren und Nase waren ihr abgeschnitten, die alten Wunden waren ungepflegt vernarbt. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Hände waren mager. Sie saß im Hintergrund wie eine Holzfigur, mit schwarzem Baumwolltuch verhängt. Der Ingenieur schüttelte sich unwillkürlich, als er das Zelt verlassen hatte.
Harry hatte ihn auch nicht ungern verschwinden sehen. Der junge Indianer legte sich nicht wieder hin, sondern hockte sich auf seine Büffelhautdecke und überlegte.
Als er mit sich ins Reine gekommen war, verließ er das Zelt und ging zum »Basar«. Der »Basar« war ein einfacher Verkaufsstand, der in einer Baracke mit einem Schiebefenster eingerichtet war. Die Waren wurden in Kommission und sehr teuer verkauft. Da es keinen anderen Laden gab, drängten sich trotzdem die Kunden. Harry wartete mit gleichgültiger Geduld, bis alle, auch solche, die nach ihm kamen, bedient waren, verlangte dann das Quantum Pfeifentabak, das er stets zu kaufen pflegte, und zahlte mit kleiner Münze, die er einem indianisch gestickten Lederbeutel entnahm. Der Geldbeutel war auf der Innenseite zur Hälfte grün, zur Hälfte rot gefärbt.
Der Indianer hielt den geöffneten Beutel so, dass die Verkäuferin die grüne Seite sehen musste. Das war eine stumme Frage, und die Verkäuferin, ein Indianermischling, jung, schwarzhaarig, braunhäutig, zeigte die Kette ihrer weißen Zähne, lachte und sagte im Dakotadialekt: »Die Großmutter hält die Ohren offen. Abends geht sie mit ihrem Enkel Wasser holen.«
»Eh, klappt das Stelldichein?«
Harry hörte diese Frage hinter sich und erkannte auch sofort die Stimme. Das war Mackie.
»Warum? Wolltest du das Mädchen haben?«, fragte er zurück.
»Nein, nein, habe mit Mestizen nichts im Sinn. Freut mich nur; dass du endlich irgendwo anbeißt.«
Der junge Indianer lächelte ironisch, aber so, dass der andere es nicht sah, und ging.
Er brachte den Tabak ins Zelt, gab ihn der verstümmelten Indianerin zum Aufbewahren, rauchte eine Pfeife und legte sich dann wieder schlafen. Bis zum Abend war noch lange Zeit.
Als er wieder erwachte und es schon dunkelte, kümmerte er sich um sein Pferd, das vor dem Zelt angepflockt war. Er machte es los und ritt weit vor das Lager bis zu einem Bach, der noch etwas Wasser führte. Er kam nicht ganz hinaus aus dem Bereich der Gerüche und Geräusche des Lagers, aber das Gewirr von Stimmen, das Klappern aus Küche und Vorratszelten, der Geruch aus großen Kesseln mit Einheitsessen, der Gestank von ungewaschenen Kleidern und Menschenkörpern kamen doch nur noch schwach, mit ihren Ausläufern, zu den Wiesen und dem Ufer des Baches, an dem Harry jetzt sein Pferd saufen ließ. Der Abendwind wehte; im Westen lag noch ein heller Streifen über den ins Violette dunkelnden Bergen. Die ersten Sterne flimmerten an dem Himmel auf, den die Sonne verlassen hatte.
Die Großmutter, von der das Mestizenmädchen gesprochen hatte, war gekommen.
Harry beobachtete unauffällig diese Indianerfrau, eine dick gewordene alte Frau, die tagsüber in der Küche arbeitete und auf diese Weise sich und ihr Enkelkind versorgte. Sie hatte das Kind mitgebracht, ein Mädchen von vier Jahren. Während das Kind sich im seichten Wasser puddelte, sprach die Alte in der Zeichensprache, aber nicht mit dem Kind, wie jeder nicht eingeweihte Beobachter geglaubt haben würde, sondern zu Harry, den sie mit seinem indianischen Namen Harka ansprach. Sie ließ ihn wissen, dass Charlemagne ein junges Küchenmädchen mit weißer Haut zur Abschiedsfeier eingeladen und dass er angedeutet hatte, es werde bei der Feier viel zu essen und zu trinken geben und auch sonst hoch hergehen, und aus einigen Wendungen hatte die Alte geschlossen, dass die Männer etwas Böses gegen irgend jemand planten. Der junge Indianer spähte umher, und als er sich überzeugt hatte, dass er nicht beobachtet wurde, antwortete er, auch in der Zeichensprache: »Der blonde Bart soll mit allen unseren Brüdern kommen.«
Die Alte verstand. Während Harka mit seinem Pferd noch am Bach blieb, rief sie das Kind, hieß es, sich wieder anzuziehen, und ging zum Lager zurück. Sie bewohnte mit den Negerinnen zusammen einen Gemeinschaftsraum neben der Küche. Dorthin brachte sie die Enkelin. Dann holte sie aus der alten Kiste, die sie sich als Aufbewahrungsort für ihre Habseligkeiten verschafft hatte, einen leinenen Mannskittel hervor, den sie geflickt hatte, und ging