Katzenschwund. Reinhard Kessler

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Katzenschwund - Reinhard Kessler


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* gekennzeichnete Wörter gibt es hier nicht

      mit ** gekennzeichnete Wörter sind im Glossar erklärt

       Tag 1

       Frühstück

      Gestern war es wieder spät geworden. Das war dem Wecker aber egal, ekelhaft egal. Auf irgendwelche Alphawellen und REM-Phasen nahm er keine Rücksicht, niemals, hatte er noch nie, wird er auch nie. Das ist das Wesen des Weckers. Das ist sein Job. Der zieht das durch.

      “Wenn der Tag schon so anfängt“, beschwerte sich der Kommissar bei seiner Frau, die sich aber grummelnd erstmal herumdrehte, das Signal ignorierte und was von ‘nur 5 Minuten weiterschlafen’ murmelte.

      “Man sollte den blöden Wecker ersetzen durch eine Kaffeemaschine mit Zeitschaltuhr. Dann wäre der Krach etwas geringer und wir hätten gleich Kaffee am Bett.“

      “Das wäre lässig.“

      Er setzte sich auf und zog aus Gründen der Bequemlichkeit schon mal die Socken an bevor er ins Bad ging.

      Seine Frau hatte ihm solche neumodischen Sportsocken gekauft, solche, wo nicht mehr jede Socke an jeden Fuss passt, sondern nur die rechte Socke an den rechten Fuss und die linke Socke an den linken Fuss. Deshalb waren diese Socken auch gekennzeichnet und zwar sinnigerweise mit L und R – normalerweise.

      Er schaute seine Socken entgeistert an und entdeckte L und L. Das war ein Schicksalsschlag. Er war fassungslos.

      “Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“

      “Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“

      Er bemerkte aber, dass die Socken trotz der Beschriftung korrekt passten, genau wie es sein soll, je eine genau rechts und eine genau links.

      „Du, die kommen bestimmt aus China. Die können doch kein R sprechen und die Socken heissen deshalb L und L, Lechts und Links.“

      “Dann brauche ich sie ja nicht umzutauschen.“

      “Und wie ziehe ich mein Hemd an? Linkslum odel lechtslum?”

      “Nelv nicht!”

      “Was hast du mir denn da gekauft? L und L?“

      “Die waren verpackt, da konnte ich nicht reingucken.“

      Damit war die Wachphase eingeläutet und alles ging seinen morgenritualhaften Weg. Man traf sich beim Frühstück wieder.

      Beim Kaffee blätterte er in der Zeitung. Bei jedem Artikel gab es zynische Bemerkungen, jeden Tag, seit Jahren. Es ging nicht anders. Es gab ja auch jeden Tag etwas in der Zeitung, was sein Verhalten provozierte.

      Nur nicht sonntags, da kam keine Zeitung.

      Er war eben ein Zyniker. Das sind ja bekanntermassen Menschen, die sich weigern die Welt so zu sehen, wie sie sein soll. Denen fehlt also eigentlich nur die rosarote Brille.

      Auch heute.

      Und so kommentierte er die Kommentare, und die anderen Artikel, ohne eben diese Brille.

      “Ha, diese Touristen-Plage! Stell dir vor, jetzt stehen sie 17 km im Stau vor dem Teutonenbeschleuniger.“

      Teutonenbeschleuniger war seine Bezeichnung für den Gotthard-Tunnel. Da werden die Deutschen und Holländer in Richtung Tessin und Italien beschleunigt und kommen am anderen Ende hochbeschleunigt und energiegeladen raus, gerade recht für die Ferien. Und weil sie hochbeschleunigt aus der Röhre kommen, hat es selbstverständlich Radaranlagen dort, für Begrüssungsfotos, wie im Europa-Park auf der Achterbahn.

      Erinnerungsbilder der besonderen Art, etwas überteuert, aber gestochen scharf. Schweizer Qualität in der Zeitmessung, praktisch umgesetzt mit deutscher Qualitätsoptik.

      Er war diesen Leuten insgeheim dankbar, senkten sie doch auf diese Weise mit ihren Spenden seine Steuerlast.

      Er las weiter.

      “Hier: das Neuste aus dem Narratorium. Das musst du lesen: sagt doch eine Bundesratte auf eine konkrete Frage eines Journalisten: ‚Ich habe dazu noch keine Meinung, ich muss mich erst noch positionieren‘. Das heisst doch wohl, erst mal gucken, wo die Mehrheit sitzt oder auf die Lobbyisten warten, welchen Verwaltungsratsposten sie mir anbieten. Dann lege ich mir auch eine dazu passende Meinung zu.“

      Seine Frau hörte nicht hin und schon gar nicht, wenn er wieder mit Politik anfing. Mit Narratorium und Bundesratten konnte er nur die Regierung und die Bundesräte meinen, obwohl er sonst immer die sieben Zwerge sagte.

      Sie hasste Politik genauso wie Werbung. Grosse Versprechungen und dann kommt das böse Erwachen. Und immer kostet es am Schluss Geld.

      Sie hatte anderes zu tun. Sie machte eine Keinkaufsliste für den Tag. Weil sie immer so grosse Einkaufslisten anfertigte, hatte er vorgeschlagen, in Zukunft doch eine Keinkaufsliste zu machen, wo man nur die Sachen aufschreibt, die nicht gekauft werden. Eine solche Liste wäre dann ja wohl wesentlich kürzer.

      Sie hatten auch aus Gründen der Selbstdisziplin sogar einen Keinkaufstag eingeführt. Einmal pro Woche bewusst kein Geld ausgeben, nix, gar nix, zero money day. Nicht mal tanken. Auch nicht mit Plastikkarte.

      Er hielt sich aus der Liste raus und fragte nur unvermittelt: “Weisst du eigentlich, wieso Hamster gegen Katastrophen helfen?“

      Sie hatte nicht hingehört und antwortete: “Milch brauchen wir noch. Die darf ich nicht aufschreiben. Was hast du gesagt?“

      “Ja, also die Leute glauben, wenn was Schlimmes passiert, dann helfen Hamster.“

      “Was soll das denn?“

      Er las schlagzeilenmässig vor: “Wegen des drohenden Tornados in Amerika kam es gestern zu Hamsterkäufen“. Und hier: “Hamsterkäufe wegen politischer Spannungen in …“

      “Ach, du wieder …“

      “Nein, sowas muss man ernst nehmen. Vielleicht unterschätzen wir alle diese putzigen kleinen Nager“, antwortete er mit breitem Grinsen.

      “Wir sollten uns vielleicht auch rechtzeitig einen Hamster kaufen. Oder der Zivilschutz sollte das wenigstens tun.“

      Der Kommissar war in der Nachbarschaft als zuverlässig, aber auch als manchmal merkwürdig bekannt.

      Schon kurz nachdem sie in diese Wohnung in Liestal eingezogen waren, regte sich Misstrauen.

      Die Ursache dafür war er selber. Er hatte die Angewohnheit, jedesmal wenn er den grossen 110 Liter Abfallsack** vor die Tür stellte, laut zu sagen: “Giovanni, man stellt sich nicht gegen die Familie …“, und er trug den Abfallsack immer über der Schulter raus.

      Das wurde natürlich von der Umgebung wahrgenommen und selbstverständlich weiter verbreitet und heftig diskutiert.

      Bei dem ortsüblichen Humor war eine harmlose Erklärung für sowas ausgeschlossen.

      Es wurde gemunkelt. Er wurde solange mit Argwohn beäugt bis die Mitbewohner erfuhren, was sein Beruf war. Vielleicht hatte man auch mal seinen Abfallsack durchsucht.

      An seiner Sprache bemerkten sie, dass er irgendwie deutsche Wurzeln haben müsse und fragten ihn auch gelegentlich, wie es ihm denn in der Schweiz gefalle.

      Je nach fragender Person gab er denn auch schon mal verschiedene Antworten. War die Person eine Frau und höflich, so antwortete er: “Sehr gut, sehr gut.

      Hier ist alles ein bisschen menschlicher und gemütlicher. Zum Beispiel, wenn ich hier einen Brief wegschicke und ich habe zuwenig Briefmarken draufgeklebt, dann wird er trotzdem befördert. Ich habe dann zwar einen Tag später einen Zettel von der Post im Briefkasten, dass ich noch sagen wir mal 50 Rappen nachzahlen


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